Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
kleinste Bewegung, ja jeder Atemzug war eine Qual.
»Ihr solltet sie verhören und nicht umbringen – sie lebt ja kaum noch!«, sagte der Mann in der roten Robe. Er hatte sich heruntergebeugt, und Madeleine spürte, wie er sie mit spitzen Fin gern an der Schulter etwas zu sich drehte, sodass er ihren Rücken näher betrachten konnte. Sein Gesicht, das von einem sorgfältig gestutzten Bart geziert wurde, zeigte einen angewiderten Ausdruck, der gleichermaßen ihrer Person wie den Spuren ihrer brutalen Züchtigung zu gelten schien. Der Mann hatte blaue Augen. Er trug ein rotes Birett und eine schwere Kette über seinem Gewand, fiel Madeleine auf, die es vor Schwäche nicht schaffte, ihre Augen länger offen zu halten. Ein Kardinal?, dachte sie. Was tat er hier?
»Keine Sorge, eine Hexe wie die bringt man nicht so leicht um!«, erwiderte eine unbeeindruckte Stimme, die Madeleine erstarren ließ. Sie gehörte dem Herzog d’Aumale.
»Ich dachte immer, Ihr glaubt nicht an solche Dinge, lieber Bruder?«, entgegnete der Mann in der roten Robe. Ein spöttischer Unterton schwang in seiner Stimme. Er hatte Madeleines Schulter losgelassen und sich wieder aufgerichtet.
»In diesem Fall schon! Ich sage Euch, diese Oberin hat recht gehabt!«, sagte Aumale.
»Meint Ihr?« Die Stimme des Kardinals hörte sich nachdenklich an. »Und Ihr habt noch nichts aus ihr herausbekommen?« Er klang enttäuscht und überrascht zugleich.
»Noch nicht. Sie hat versucht, mir dieselbe Geschichte zu erzählen wie den Hugenotten. Dass sie die Männer auf dem Weg vom Kloster zum Wald gesehen hat. Aber keine Sorge, sie wird reden. Ich habe noch nicht einmal richtig mit ihr angefangen«, hörte Madeleine den Herzog d’Aumale antworten. Sein Tonfall ließ sie schaudern. Lieber wollte sie tot sein, als weiter von ihm verhört zu werden, dachte sie. Sie spürte, dass ihr Bewusstsein immer wieder wegzugleiten drohte, und versuchte, mit aller Kraft gegen die Erschöpfung und den Schmerz anzukämpfen, um mitzubekommen, was die beiden Männer sprachen.
»Seid Ihr sicher, dass Ihr das hier selbst weiterführen wollt?«, fragte der Kardinal.
»Ja, wie Ihr bestimmt verstehen werdet, ist es mir ein persönliches Bedürfnis!« Eine Schuhspitze stieß gegen ihre Schulter.
»Nun, es ist mir egal«, erwiderte der Kardinal gleichgültig. »Aber Ihr solltet Euch etwas mehr zurückhalten, damit sie noch halbwegs am Leben ist, wenn wir sie der Inquisition übergeben.«
Inquisition? Madeleine öffnete halb die Lider, als sie die letzten Worte hörte, doch die beiden Männer hatten ihr bereits den Rücken zugewandt und gingen zurück zur Tür.
»Werdet Ihr heute Abend auch zum Empfang des Königs kommen?«, vernahm sie den Kardinal dann von weiter weg.
»Selbstverständlich. Seit ich dort dieser Kreatur, dem Prinzen de Condé, nicht mehr ins Gesicht blicken muss, hat der Hof geradezu wieder etwas Reizvolles bekommen. Wird der König an seinen Plänen festhalten?«, erwiderte der Herzog von der Schwelle her.
»Ja, ich bin mir dessen sicher!«
Die Tür fiel ins Schloss, und sie konnte hören, wie die beiden Männer sich auf dem Gang entfernten.
Wieso wollte man sie der Inquisition übergeben?Und warum wurde sie dann überhaupt noch verhört?, fragte sich Madeleine. Ihre ganze Flucht, alles war vergeblich gewesen, dachte sie. Verzweifelt versuchte sie, sich auf dem Stroh auf die Seite zu drehen, doch ihr Rücken, der sich wie eine einzige schmerzende Wunde anfühlte, machte es ihr unmöglich. Sie fühlte sich unendlich schwach. Es konnte ihr egal sein. Ein weiteres Verhör würde sie ohnehin nicht überleben, dachte sie entkräftet, bevor sie erneut in einen Dämmerschlaf sank.
Als sie das nächste Mal erwachte, war es draußen dunkel. Durch den schmalen Schacht über ihr drang kein Tageslicht mehr ins Verlies. Ein Wärter hatte ihr einen Krug mit frischem Wasser hingestellt, doch obwohl sie glaubte, vor Durst zu sterben, war sie nicht fähig, sich so weit aufzurichten, um daraus zu trinken. Ihr war heiß. Entsetzlich heiß, und ihr Rücken glühte, als würde ein Feuer darauf brennen. Sie würde sterben, dachte sie – allein und verlassen auf einem Haufen dreckigen, stinkenden Strohs. Doch der Tod schien auf seltsame Weise seinen Schrecken verloren zu haben. Alles war besser, als noch einmal Aumale ausgeliefert zu sein. Dann fiel sie erneut in Schlaf. Sie träumte von Menschen, die in ihrem Leben einmal eine Rolle gespielt hatten, von dem alten Apotheker
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