Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
wieder zurück in ihr Gemach gegangen war oder es sich vielleicht anders überlegt hatte. Er war verärgert gewesen, dass sie nicht gekommen war – und auch enttäuscht, musste er zugeben. Nur zu gut hatte er sich an ihren Gesichtsausdruck erinnert, als er sie nach seiner Rückkehr an jenem Nachmittag im Stall angetroffen hatte. Eine Mischung aus Freude und einem Hauch von Verlegenheit hatte er darin entdeckt, aber auch eine Spur von Angst, weil sie ihm nicht die Wahrheit erzählen wollte – oder konnte, wie sie behauptet hatte. Und dennoch war er sich nach ihrem Gespräch und dem Kuss im Stall sicher gewesen, dass sie sich ihm anvertrauen würde. Er stellte mit einer abrupten Bewegung sein Glas ab. Hätte er nur noch in der Nacht nach ihr gesucht!
Doch erst am Morgen, als auch Guillaume und Charlotte de Laval beunruhigt nach ihr fragten, hatte er begriffen, dass etwas nicht stimmte. Er war zu ihrem Gemach gegangen und hatte entdeckt, dass ihre Sachen zwar noch da waren, aber ihr Bett in der Nacht nicht benutzt worden war. Es war der Moment gewesen, in dem seine Verärgerung endgültig in tiefe Besorgnis umgeschlagen war. Sie hatten angefangen, Madeleine überall zu suchen, doch sie war unauffindbar geblieben.
»Vielleicht ist sie doch nicht damit klargekommen, auf einmal unter Protestanten leben zu müssen«, hatte Ronsard nachdenklich gemeint, der über ihr Verschwinden ebenso beunruhigt schien.
Doch Vardes wusste, dass das nicht stimmte. Später war er schließlich noch einmal auf den Turm gestiegen – und hatte dort ihr eingerissenes Schultertuch gefunden. Seitdem wusste er, dass Madeleine Châtillon nicht freiwillig verlassen hatte.
Er hatte Coligny und seiner Gemahlin in einem Gespräch unter vier Augen von seiner Befürchtung berichtet. »Ihr glaubt, die Guise hätten sich hierher nach Châtillon gewagt, um sie zu entführen?«, hatte der Admiral ungläubig gefragt.
»Nicht die Guise, aber ihre Schergen!«
»Verzeiht«, mischte sich Charlotte de Laval in die Unterredung. »Aber wenn die Guise das wirklich wagten, würden sie dann nicht als Erstes meinem Gemahl nach dem Leben getrachtet haben?«, fragte sie mit ihrer hellen Stimme.
Vardes schüttelte den Kopf. »Nein, die Guise wissen, dass Euer Gemahl hier ständig von seinen Leuten und Leibgarden umgeben ist. Sie hätten ein halbes Regiment benötigt, um ihn anzugreifen. Madeleine dagegen war unbewacht. Man hat wahrscheinlich nicht mehr als zwei Männer gebraucht, um sie in ihre Gewalt zu bringen.«
Charlotte de Laval hatte ihn betroffen angeblickt. »Mein Gott, das heißt, dass wir der jungen Frau nicht genügend Schutz geboten haben, oder?«, entfuhr es ihr schockiert.
»Ich fürchte, ja«, hatte er leise erwidert und verschwiegen, dass er sich selbst dabei am meisten Vorwürfe machte.
Wenn die Handlanger der Guise Madeleine tatsächlich entführt hatten, wie hatten sie die junge Frau dann aus Châtillon herausgebracht? Ganz sicher nicht auf einem Pferd, überlegte er. Sie mussten einen Wagen oder Karren gehabt haben. Er dachte an das ständige Kommen und Gehen, das zurzeit auf dem Schloss herrschte, und entsann sich plötzlich, wie er mit Madeleine über den Hof gegangen war. Ein Bauer oder Händler war gegen sie gestoßen, und sie war einen Augenblick lang irritiert gewesen, weil ihr sein Gesicht bekannt vorgekommen war. Ein ungutes Gefühl ergriff ihn, als er sich jetzt daran erinnerte.
Als er später allein in seinem Gemach war, betrachtete er nachdenklich das eingerissene Schultertuch von Madeleine. Der zarte Duft, der von dem Stoff ausging, gab ihm für einen Moment das Gefühl, sie würde neben ihm im Raum stehen. Er verspürte einen schmerzhaften Stich. Ihm lag an ihr – sehr. Wie viel, war ihm erst bewusst geworden, als er ihr Verschwinden entdeckt hatte.
Vardes ballte unwillkürlich die Faust. Er musste sie finden, um jeden Preis, denn er wusste, wozu die Guise fähig waren.
63
A ls sie wieder zu sich kam, lag sie auf dem Boden auf drecki gem, feuchtem Stroh. Sie blickte zwischen halb geöffneten Li dern auf etwas Purpurrotes und brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass es der Saum eines Gewandes war. Zwei seidene Schuhspitzen sahen darunter hervor. Augenscheinlich stand ein Mann vor ihr, nein, zwei Männer – neben der roten Robe erkannte sie ein weiteres Paar Beine in Seidenstrümpfen und gebauschten Kniebundhosen. Sie fühlte sich zu schwach, um den Kopf nach oben zu drehen. Der Schmerz war zurückgekehrt, und jede
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