Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
war, ein solches Interesse zeigte.
Paré strich sich nachdenklich über seinen gestutzten Bart. Sie kam ihm bekannt vor, dachte er erneut – das kastanienbraune Haar, die helle Haut, die ihre dunklen Wimpern und Brauen betonte. Das Bild eines ohnmächtigen Mädchens am Ufer eines Flusses blitzte vor ihm auf, und er ahnte plötzlich, wen er vor sich hatte. Sie war älter als das junge Mädchen damals, doch die Ereignisse lagen auch einige Jahre zurück. Der Chirurg entsann sich der Gerüchte, die sich um sie gerankt hatten. Angeblich habe sie in hellseherischer Weise von dem Einsturz der Brücke gewusst. Sogar die Königinmutter hatte deshalb verlangt, sie zu sehen, aber das Mädchen hatte geleugnet, irgendwelche übernatürlichen Eingebungen gehabt zu haben.
Sein Blick wanderte von ihrem jungen Gesicht zu den Striemen auf ihrem Rücken. Er hatte die Verletzung vorsichtig gesäubert und eine spezielle Tinktur zur Wundbehandlung auf das offene Fleisch aufgetragen, doch es war unwahrscheinlich, dass die Haut wieder vollständig heilen und keine Narben zurückbleiben würden. Paré berührte vorsichtig ihre Stirn. Zumindest das Fieber schien etwas zurückgegangen zu sein. Es lag kein leichter Weg vor ihr, dachte er. Gegen die körperlichen Schmerzen konnte er ihr etwas geben, nicht aber gegen die seelische Verletzung und die Demütigung, der Macht eines anderen Menschen auf solch brutale Weise ausgesetzt gewesen zu sein.
»Wie geht es ihr?«, fragte eine tiefe Stimme hinter ihm.
Der Chirurg fuhr unwillkürlich zusammen. Er hatte die Schritte nicht gehört. Er drehte sich herum. Der Mann mit den bläulichen Augenschatten tauchte stets geräuschlos wie aus dem Nichts auf. Paré hasste es, auf diese Art von ihm überrascht zu werden, dennoch neigte er höflich den Kopf vor dem Geheimdienstchef, der in diesem abgeschlossenen Teil des Schlosses herrschte. Niemand durfte ihn ohne seine Erlaubnis betreten oder verlassen.
»Das Fieber ist zurückgegangen, aber es wird einige Zeit brauchen, bis diese Verletzungen geheilt sind. Gott sei Dank ist sie jung«, erwiderte der Chirurg. Einen Moment lang kämpfte er mit seiner Neugier. Zu gerne hätte er erfahren, wer der jungen Frau das angetan hatte, aber er unterließ es zu fragen. Der Geheimdienstchef hätte ihm vermutlich ohnehin keine Antwort gegeben.
Wortlos war Lebrun neben ihn getreten und musterte die junge Frau.
»Ohne medizinische Behandlung hätte sie sicherlich nicht überlebt«, sagte Paré.
»Ich weiß«, erwiderte Lebrun. »Hoffen wir, dass sie das auch zu schätzen weiß!«, fügte er mit einem leichten Lächeln hinzu und wandte den Kopf zu dem Chirurgen. »Ihre Majestät, die Königinmutter, wünscht Euch zu sprechen.«
Paré nickte.
Er packte seine Utensilien zusammen, und kurz darauf begab er sich zum Haupttrakt, in dem sich die privaten Gemächer der Medici befanden. Der Hof weilte zurzeit in Montceaux, einem königlichen Schloss im Osten von Paris. Die umgebenden Wälder erlaubten es dem König, sich mit Leidenschaft der Jagd hinzugeben, während die Königinmutter weiter mit eiserner Hand die Regierungsgeschäfte lenkte.
Ein Diener geleitete ihn in ihr Kabinett, wo die Medici gerade im Gespräch mit einem schwarzhaarigen Mann stand. Es handelte sich um ihren Lieblingsastrologen aus Italien, Cosimo Ruggieri, wie Paré erkannte. Er trug ein weites schwarzes Gewand, das im unteren Bereich und an den Ärmeln mit seltsamen silbernen Zeichen bestickt war. Der Chirurg wusste, dass die Königinmutter regelmäßig den Rat dieser Leute einholte. Sie glaubte an die Macht der Sterne und Vorhersehung. Er erinnerte sich, dass sie ihm damals, als ihr Gemahl Henri im Turnier verletzt worden war, erzählt hatte, dass man ihr sogar seinen Tod vorhergesagt hatte.
Paré schaute zu dem Astrologen, der einige Pergamentpapierrollen vor der Königinmutter ausgebreitet hatte, auf denen die kreisförmigen Zeichnungen von Horoskopen zu erkennen waren. Daneben lagen mehrere seltsame quaderförmige Steinchen. Ruggieri sprach mit leiser beschwörender Stimme auf die Königinmutter ein, deren Gesicht einen aufmerksamen und sorgenvollen Ausdruck angenommen hatte. Die Aussichten für die Zukunft schienen nicht gut zu stehen. Paré, der in eine tiefe Verbeugung gesunken war, bezweifelte allerdings, dass man für diese Einschät zung zurzeit die Sterne befragen musste. Die politische Situation zwischen Katholiken und Hugenotten war dermaßen verfahren, dass sie wieder einmal kurz vor
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