Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
der Eskalation stand – um das zu wissen, brauchte man kein Hellseher zu sein. Paré brachte der Astrologie eine gewisse Skepsis entgegen. Er hielt sich lieber an greifbare Fakten. Dabei wurden die Sterne auch von vielen Ärzten bei medizinischen Fragen zurate gezogen. Aber er war auch kein gelehrter Arzt, sondern nur ein Chirurg, der seine Laufbahn einmal als Barbier und Bader begonnen hatte. Ein Berufsstand, der von den Ärzten, die an der Sorbonne Medizin studierten und die lateinische Sprache beherrschten, noch immer nur abfällig als ein blutiges Handwerk angesehen wurde.
»Monsieur Paré!«, begrüßte ihn die Königinmutter in diesem Moment. Sie verabschiedete Ruggieri, der die Steinchen wieder einsammelte und sich anschickte, mit den Rollen in der Hand den Raum zu verlassen. Auf seinem Weg warf der Astrologe Paré einen kurzen durchdringenden Blick aus seinen kohlrabenschwar zen Augen zu, als hätte er jeden seiner Gedanken mitbekommen. Seine düstere Erscheinung hatte unzweifelhaft etwas Unheimliches, dachte der Chirurg, der froh war, als sich die Tür hinter Ruggieri schloss. Er verstand nur zu gut, dass diese Leute, mit denen sich die Königinmutter umgab, im Volk als Zauberer und Hexer verschrien waren.
»Wie steht es um die junge Frau, die Ihr versorgt?«, erkundigte sich Catherine de Medici.
Sie bedeutete ihm, auf einem Schemel Platz zu nehmen, während sich ihre füllige Gestalt in dem schweren schwarzen Kleid in einem verzierten Lehnstuhl niederließ. Mit den Jahren, die Paré am Hof sein Amt innehatte, war zwischen ihnen eine gewisse Vertrautheit entstanden – soweit das mit einer Frau, die im Stillen immer noch die wahre Königin dieses Landes war, denn möglich war.
»Ich hoffe, es geht ihr besser?«
»Ein wenig, Euer Majestät. Sie bekommt Schmerz- und Schlafmittel, um schneller gesunden zu können.«
»Gut, ich wünsche, dass Ihr sie behandelt, als ob sie ein Mitglied der königlichen Familie wäre.« Ihr Tonfall hatte den unmissverständlichen Klang der Königin bekommen, die befahl.
»Selbstverständlich!«, erwiderte Paré und unterließ es, ihr zu erklären, dass er seine Patienten stets alle mit der gleichen Sorgfalt behandelte und noch nie einen Unterschied gemacht hatte, ob jemand nun arm oder reich, ein einfacher Soldat oder Kö nig war.
»Tut alles dafür, dass sie so schnell wie möglich wieder gesundet. Sie hat einiges mitgemacht, und uns liegt an ihrem Wohl. Ihr müsst wissen, dass sie für uns von einiger Bedeutung sein könnte!«
Der Chirurg nickte, nicht einmal erstaunt über die Offenheit, mit der die Königinmutter zugab, dass sie die junge Frau nicht allein aus hehren Motiven in ihre Obhut gebracht hatten. Die Tatsache, dass sich Lebrun um die Angelegenheit kümmerte, hatte ihn dies schon vermuten lassen.
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S chon eine ganze Weile hatte sie durch die halb geschlossenen Lider den Mann beobachtet, der neben dem kleinen Tisch stand und eine Glasphiole mit einer trüben Flüssigkeit schüttelte, deren Inhalt er immer wieder prüfend zum Licht hob. Er trug einen weißen Spitzenkragen, ein gestreiftes Wams und geschlitzte Kniebundhosen. Seine grauen Schläfen verrieten ihr, dass er bereits in den Fünfzigern sein musste.
Ihr Blick glitt durch den Raum, und sie stellte fest, dass sie sich in einem kleinen, elegant eingerichteten Gemach befand. Sie hätte weder sagen können, wie lange sie schon hier war, noch, wie sie hierhergekommen war. Eine schemenhafte Erinnerung an einige maskierte Gestalten tauchte vor ihr auf.
»Wo bin ich hier?«, fragte sie laut.
Der Mann mit der Phiole in der Hand drehte sich überrascht zu ihr. Dann glitt ein breites Lächeln über sein Gesicht.
»Ah, Ihr seid wach geworden! Ich hatte schon befürchtet, das Schlafmittel würde Euch noch den ganzen Tag schlafen lassen!«
Schlafmittel? Madeleine versuchte sich aufzurichten, doch ein stechender Schmerz in ihrem Rücken ließ sie zusammenzucken, und sie sank zurück.
»Langsam, langsam!«, sagte der Mann, der mit einem Satz bei ihr war. Er stützte sie. »Ihr werdet noch einige Tage brauchen, bis Ihr Euch wieder etwas bewegen könnt, Mademoiselle!«
Sie schaute ihn an. Es kam ihr vor, als ob sie ihn schon einmal gesehen hätte. »Wo bin ich hier?«, fragte sie erneut.
»Im Schloss von Montceaux, am Hof, in der Obhut der Königinmutter«, teilte er ihr mit.
»Am Hof?« Zunehmend verwirrter, versuchte sie zu begreifen, was geschehen war. »Aber wieso? Und wie bin ich überhaupt
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