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Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Titel: Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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Legrand, von Louise aus dem Kloster, von der Äbtissin und von Rémi, dem Zwerg. Auch die ältere Frau, die ihrer Mutter so ähnelte und deren Gesicht sich ihr während der Misshandlung gezeigt hatte, begegnete ihr im Traum – und schließlich auch Nicolas de Vardes. Er strich ihr durchs Haar und sagte ihren Namen, doch dann verflüchtigte sich sein Bild. Sie wollte noch nicht sterben, dachte sie im Traum. Sie wollte ihn wiedersehen. Eine tiefe Sehnsucht ergriff sie.
    Unruhig bewegte sie sich im Schlaf. Dann veränderte sich der Traum. Sie hörte Holz bersten und erstickte Laute. Männer kamen im Dunkeln auf sie zu. Ihre schwarzen Schatten huschten wie Geister um sie herum, ohne dass sie ihre Gesichter erkennen konnte. Einer von ihnen versuchte, ihr zu helfen, sich aufzurichten, doch der Schmerz an ihrem Rücken war so groß, dass sie aufschrie. Eine Hand presste sich auf ihren Mund. »Schschsch!«
    Sie hörte Geflüster, dann gab ihr jemand etwas zu trinken. Es schmeckte süßlich und fühlte sich wohltuend in ihrer ausgedörrten Kehle an.
    Sie blickte den Mann vor sich an. Er trug eine schwarze Maske und war bewaffnet, genau wie die anderen, und dann begriff sie, dass sie gar nicht träumte. Die Tür des Verlieses stand offen, und die beiden Wachen lagen leblos auf dem Boden. Wer waren die Männer? Im selben Augenblick fühlte sie, wie sich in ihrem Körper eine eigentümliche Entspannung breitmachte, ihre Glieder erschlafften und sie in einen dunklen tiefen Schlaf fiel.

TEIL III
    Der Hof

64
    A mbroise Paré war seit über dreißig Jahren Chirurg, und in dieser Zeit war das menschliche Leid für ihn ein alltäglicher Anblick geworden. Er kannte das Gesicht von Krankheiten und Epidemien genauso wie die Abgründe und Grausamkeiten des Kriegs. Er hatte Kinder, Frauen und Männer sterben sehen – manche schnell, andere qualvoll langsam und leidend in einem unwürdigen Prozess des Dahinsiechens. Der Tod war ein übermächtiger und gnadenloser Gegner, hatte er gelernt, und dennoch hatte er nie aufgehört, gegen ihn zu kämpfen. Jedes Mal, wenn es ihm gelang, ein Leben zu retten, empfand er ein tiefes Gefühl des Glücks und der Dankbarkeit seinem Schöpfer gegenüber. In all den Jahren hatten es indessen nur wenige Menschen geschafft, den Chirurgen auch persönlich zu berühren. Er bemühte sich, stets eine Distanz zu seinen Patienten zu halten, um seine Tätigkeit in aller Perfektion ausführen zu können, denn Mitleid und Anteilnahme waren oft gefährliche Empfindungen, die einen nur im falschen Moment zögern und Rücksicht nehmen ließen.
    Trotzdem hatte es hin und wieder das eine oder andere Schicksal gegeben, demgegenüber Paré sich nicht ganz hatte verschließen können. So wie bei der jungen Frau, die hier vor ihm lag.
    Ambroise Paré verzog unwillkürlich die Stirn, als er ihre Verletzungen erneut betrachtete. Ihr Rücken sah aus, als wäre ein Schlächter über sie hergefallen. Die Peitschenschläge – um die es sich der Form der Wunden nach zu urteilen handelte – zogen sich von den Schultern hinunter bis zum Ansatz ihres Steißbeins. Kaum ein Stück ihrer Haut war heil geblieben. Paré erblickte nicht zum ersten Mal in seinem Leben solche Verletzungen. Er wusste, wie Menschen nach Folterungen aussahen. Was ihn hier überraschte, war der offensichtliche oder auch absichtliche Dilettantismus. Die Hiebe waren zweimal hintereinander ausgeführt worden, und zwar mit solcher Wucht, dass sie vermutlich selbst einem erwachsenen Mann innerhalb von kürzester Zeit das Bewusstsein geraubt hätten. Das aber widersprach dem Zweck einer solchen Züchtigung, die gewöhnlich dazu diente, entweder ein Geständnis zu erzwingen oder jemand leiden zu lassen – und zwar bei Bewusstsein. Er schloss daher, dass derjenige, der wie ein Besinnungsloser auf sie eingeprügelt hatte, vollständig die Kontrolle verloren hatte. Aus welchem Grund wohl?, fragte er sich. Sie wirkte nicht so, als könnte sie irgendjemandem etwas antun. Ihre anmutigen Gesichtszüge hatten etwas Verletzliches. Dank des Schmerzmittels, das er ihr gegeben hatte, schlief sie tief und bewegte sich nur von Zeit zu Zeit unruhig mit einem leisen Stöhnen.
    Kaum einer wusste, dass sie sich hier im Palast befand. Man hatte Paré nicht einmal ihren Namen verraten, sondern ihn nur unter Anordnung strikter Geheimhaltung beauftragt, sich um ihre Verletzungen zu kümmern. Es überraschte ihn, dass man an einer jungen Frau, die offensichtlich nicht von hoher Geburt

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