Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
hierhergekommen?«
»Das entzieht sich leider meiner Kenntnis, Mademoiselle. Aber offensichtlich liegt der Königinmutter an Eurem Wohl!«, stellte er mit freundlicher Stimme fest.
Madeleine schwieg. Sie sah Aumales widerliches Gesicht vor sich und konnte für einen kurzen Moment in ihrem Kopf das klatschende Geräusch der Peitsche hören, die ihre Haut traf. Sie hätte Dankbarkeit empfinden müssen, dass man sie aus den Hän den dieses Monstrums befreit hatte, doch es gelang ihr nur halb. Als sie aufgewacht war und bemerkt hatte, dass sie sich nicht mehr in dem Verlies befand, hatte sie für einen kurzen Augenblick gehofft, wieder in Châtillon zu sein. Sie hatte an Nicolas gedacht. Wie mochte er wohl reagiert haben, als er entdeckt hatte, dass sie verschwunden war? Sie wünschte, sie hätte ihm irgendwie eine Nachricht zukommen lassen können.
»Ihr braucht keine Angst mehr zu haben. Ihr seid hier in Sicherheit«, sagte der Mann, der ihren angespannten Gesichtsausdruck bemerkt hatte und missverstand.
Madeleine blickte ihn an. »Verzeiht, aber kennen wir uns von irgendwoher?«, fragte sie dann zögernd.
»Ihr erinnert Euch also? Nun, es liegt einige Jahre zurück. Damals in Éclaron. Ich bin Ambroise Paré, Chirurg des Königs …«
»Ich weiß.« Ihr fiel plötzlich alles wieder ein. »Ihr habt nach dem Einsturz der Brücke das Bein des Müllergesellen in Éclaron amputiert«, platzte sie heraus.
Er nickte. »Ja, eine schwierige Operation! Der Unterschenkelknochen war völlig zerborsten.« Ein gedankenverlorener Ausdruck glitt über sein Gesicht, als würde er sich wieder an jede Einzelheit erinnern. Er wandte den Kopf zu ihr. »Und ich erinnere mich, dass Ihr damals versucht habt, die Menschen zu warnen, und nach dem Einsturz ohnmächtig geworden seid.«
»Ja, das stimmt«, erwiderte sie knapp. Sie wurde noch immer ungern an den Vorfall erinnert und fragte sich, ob es zwischen den Ereignissen von vor vier Jahren und jetzt einen Zusammenhang gab. Hatte die Medici sie deshalb aus den Händen der Guise befreien lassen? Welchen Grund hätte sie sonst haben können? Aber wie hatte man am Hof überhaupt wissen können, dass sie dort in Gefangenschaft geraten war?
»Ich muss jetzt diese Tinktur auf Eure Wunden auftragen. Eure Verletzungen werden eine Weile der Behandlung bedürfen«, sagte Paré, der noch immer die Glasphiole mit der trüben Flüssigkeit in der Hand hielt. »Ich vermute, Ihr werdet es etwas merken, jetzt, da Ihr wieder bei Bewusstsein seid«, fügte er hinzu.
Madeleine nickte. Er hatte nicht gelogen, die Tinktur brannte fürchterlich, und sie zuckte während des Auftragens mehrmals zusammen.
Nachdem Paré fertig war, ließ er ihr durch einen Diener etwas zu essen bringen. »Ich werde Monsieur Lebrun und die Königinmutter darüber in Kenntnis setzen, dass Ihr wach seid. Sie werden mit Euch sprechen wollen«, sagte er, als er sich schließlich von ihr verabschiedete.
»Monsieur Lebrun?«, fragte sie. »Wer ist das?«
Sie bemerkte, dass der Chirurg zögerte. »Ich denke, er wird Euch das lieber selbst erklären wollen«, erwiderte er ausweichend. Madeleine sah ihm verwundert hinterher.
66
I n den nächsten beiden Tagen hörte sie jedoch weder von Monsieur Lebrun noch von der Königinmutter etwas. Dank Parés Behandlung und Medizin ging es ihr zunehmend besser, sie aß mit Appetit und schlief viel und fest. Gelegentlich hörte sie Geräusche und Stimmen, die über den kleinen Innenhof zu ihr drangen. Sie bekam auch mit, dass Menschen leise in ihr Gemach kamen und gingen – andere Ärzte, Diener und eine Zofe, die ihr schließlich auch half, sich zu waschen und ein neues Hemd anzuziehen.
Der Chirurg war mit ihrer Genesung zufrieden. »Die Wunden heilen gut«, sagte er. »Einige Narben werden wohl zurückbleiben, aber weit weniger, als ich ursprünglich dachte!«
Sie nickte und versuchte, nicht darüber nachzudenken, wie sehr sie diese Narben entstellen würden. Es wäre ihr undankbar vorgekommen, damit zu hadern. Sie wusste, dass sie froh sein konnte, überhaupt noch am Leben zu sein.
»Aus welchen Substanzen besteht diese Tinktur eigentlich?«, fragte sie, als Paré wieder einmal dabei war, den Inhalt einer Phiole auf ihren Rücken aufzutragen.
»Oh, es ist eine Mischung, die ich auch bei der Behandlung von schweren Verletzungen durch Feuerwaffen benutze und die die eigene Heilungskraft der Haut anregt.«
Er half ihr, einen kurzen Umhang aus einem Seidenstoff überzulegen, der so leicht
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