Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
war, dass er selbst auf den Wunden nicht zu spüren war. Plötzlich nahm Madeleine aus den Augenwinkeln einen Schatten wahr. Die Gestalt eines Mannes war in der Tür aufgetaucht.
»Wie ich sehe, macht Ihr Eurem Ruf wieder einmal alle Ehre, Monsieur Paré. Unsere Patientin sieht wie neugeboren aus«, sagte der Fremde mit tiefer Stimme. Er war näher gekommen. »Wie geht es dir, Madeleine?«, fragte er mit einem Lächeln, als wären sie alte Bekannte.
Woher kannte er ihren Namen? Sie mochte ihn auf Anhieb nicht, stellte sie fest – ihr gefiel weder, dass er sie duzte, noch dass er ohne jede Hemmung auf sie zukam, obwohl sie nur mit einem leichten Hemd und dem kurzen Umhang bekleidet auf dem Bett saß. Dabei lag in seinem Blick nichts Anzügliches, sondern eher etwas Abschätzendes, als würde er sie einer Ware gleich auf ihren Wert hin begutachten.
Erst dann nahm sie wahr, dass sie ihn kannte. Es war Jahre her, aber die bläulichen Schatten unter seinen Augen waren ein zu charakteristisches Merkmal, als dass Madeleine sie vergessen hätte. Er war der Mann, der sich damals in dem Zelt der Königinmutter befunden hatte. Sie erinnerte sich, wie unheimlich er ihr damals erschienen war, und hatte nicht das Gefühl, dass es ein gutes Zeichen war, ihn ausgerechnet hier wieder zu treffen.
»Danke, besser«, erwiderte sie zurückhaltend und bemerkte, dass Paré sich wortlos zurückgezogen hatte und sie mit dem Mann mit einem Mal allein war.
»Ich bin Monsieur Lebrun. Ich nehme an, dass du einige Fragen hast?«, sagte er und ließ sich auf einem Stuhl neben ihrem Bett nieder.
Sie zog unwillkürlich den Umhang enger um die Schultern.
»Ja«, antwortete sie dann. »Monsieur Paré sagte mir, dass ich mich in der Obhut Ihrer Majestät, der Königinmutter, befinde, und ich bin überaus dankbar für meine Rettung …« Sie suchte nach den richtigen Worten, bevor sie weitersprach: »Trotzdem würde ich gerne wissen, warum ich hier bin.«
»Nun, es war der Wunsch Ihrer Majestät, dich aus den Händen der Guise zu befreien. Offensichtlich liegt Ihrer Majestät an deinem Wohl«, erwiderte er glatt.
Sie schaute ihn an. Es waren die gleichen Worte, die auch Paré gesagt hatte, und doch erhielten sie aus seinem Mund eine gänzlich andere Bedeutung, dachte Madeleine. Sie traute diesem Mann nicht, auch wenn sein Blick noch so freundlich war.
»Aber warum? Ihre Majestät kennt mich nicht einmal, und ich bin nur eine unbedeutende Person …«, sagte sie dann.
Die Andeutung eines amüsierten Lächelns zeigte sich auf seinen Lippen. »Du bist alles andere als unbedeutend, Madeleine. Das sollte dir seit dem Tag klar sein, an dem du den Einsturz der Brücke vorhergesehen hast, und erst recht nach dem, was dir in den letzten Wochen passiert ist«, sagte er in einem Tonfall, der etwas Unergründliches hatte.
Sie erstarrte und fragte sich, was er noch wusste.
Lebrun hatte gelassen seine Beine in den seidenen Hosen übereinandergeschlagen. »Du hast sehr viel Glück gehabt. Der Herzog d’Aumale hätte dich töten können, und sei dir dessen gewiss, dass er das auch tun wird, wenn er deiner das nächste Mal habhaft wird. Du solltest also dankbar sein, dass Ihre Majestät dir dieses Interesse entgegenbringt, und dich dessen auch als würdig erweisen, wenn du ihr nachher deine Aufwartung machen darfst«, erklärte er und legte ihr mit sanftem Druck, unter dem sie dennoch zusammenzuckte, die Hand auf die Schulter.
Die Medici wünschte sie zu sprechen? Sie sah ihn überrascht an.
Lebrun schien keine Antwort von ihr zu erwarten. »Eine Zofe wird nachher vorbeikommen und dir beim Ankleiden helfen«, sagte er, bevor er sich schließlich verabschiedete.
Eine Weile blieb Madeleine wie betäubt auf dem Bett sitzen. Er hatte ihre Frage, warum sie hier war, nicht wirklich beantwortet, wurde ihr bewusst.
67
E r kam am Nachmittag persönlich, um sie zur Königinmutter zu geleiten. Sie gingen durch breite große Flure. Prächtige, mit Gold verzierte Ornamente mit dem Wappen und der Lilie der Valois- Könige und die kunstvoll verschlungenen Initialen C und H prangten an den Wänden. Catherine und Henri – die Vornamen der Königinmutter und ihres verstorbenen Gemahls.
Zum ersten Mal begriff Madeleine, dass sie sich tatsächlich in einem königlichen Schloss befand. Châtillon, das Anwesen des Admirals de Coligny, war beeindruckend gewesen, doch hier schienen eine stille Macht und ein Prunk in den Gängen zu liegen, die weit darüber hinausgingen
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