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Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Titel: Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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und die sie noch nie erlebt hatte. Ihr Blick heftete sich beeindruckt auf das schwarz-weiße Rautenmuster des Marmorbodens.
    »Wir befinden uns hier in einem abgeschlossenen Trakt des Schlosses, der bewacht ist. Niemand kann hier einfach herein«, teilte Lebrun ihr mit. »Du solltest aber wissen, dass die Guise, also der Herzog d’Aumale und der Kardinal de Lorraine, zum Gefolge des Hofes gehören und du ihnen außerhalb dieses Traktes jederzeit begegnen könntest …«
    Madeleine schaute ihn entsetzt an. Allein der Name des Herzogs jagte ihr ein Schauer über den Rücken. Bei dem Gedanken, dass sich der Mann, der sie so gepeinigt hatte, nur wenige Schritte entfernt aufhalten konnte, verspürte sie Übelkeit und Ohnmacht. Zum ersten Mal verstand sie den Wunsch nach Rache. Wäre sie ein Mann gewesen, sie hätte alles darangesetzt, Aumale zu töten.
    Lebrun fasste sie leicht am Arm. »Sei unbesorgt, die Guise würden es nicht wagen, dir hier etwas anzutun, aber zu deinem eigenen Schutz solltest du deshalb in diesem Flügel des Schlosses bleiben. Du wirst auch immer eine Wache an deiner Seite haben.«
    Madeleine nickte.
    Sie hatten eine große Tür erreicht. Die Garde mit der Lanze wich respektvoll zur Seite, als sie Lebrun erkannte. Sie traten in einen luxuriös eingerichteten Kabinettsraum mit einem verzierten weißen Kamin und großen Gobelins an den Wänden. Madeleine sah, dass die Medici in einem Lehnstuhl saß und sich im Gespräch mit zwei Kammerzofen befand, die sich bei ihrem Eintreten sofort zurückzogen.
    Sie sank in einen tiefen Knicks. In ihrer Erinnerung war die Königinmutter eine große düstere Erscheinung gewesen, doch wie sie jetzt aus den Augenwinkeln feststellte, konnte die Medici höchstens von mittelgroßer Statur sein. Ihr Gesicht, das von einer eng anliegenden Haube umrahmt wurde, besaß jedoch noch dieselben fülligen Konturen wie damals, und ihre Haltung war selbst im Sitzen so gerade und erhaben, dass ihre Macht im ganzen Raum zu spüren war. Sie trug ein schwarzes perlenbesticktes Kleid.
    »Du darfst dich erheben«, sagte sie mit ihrem harten italienischen Akzent. Sie bedeutete Madeleine mit einem Zeichen, näher zu treten.
    »So sieht man sich wieder!« Die Königinmutter lächelte. »Wie geht es dir, mein Kind?« Ihr Tonfall war warm, dennoch ergriff Madeleine eine leichte Beklommenheit. Man konnte nicht anders, als sich von der Erscheinung dieser Frau eingeschüchtert zu fühlen.
    »Danke. Monsieur Parés Behandlung lässt mich die Wunden kaum noch spüren … Ich möchte Euch für meine Rettung danken«, setzte sie leise hinzu.
    Die Medici nickte. »Wir haben uns schon eine ganze Weile bemüht, dich zu finden, aber es war etwas schwieriger, als wir anfangs vermuteten. Monsieur Lebrun schien einigermaßen über rascht, dass du es überhaupt geschafft hast, den Guise so lange zu entkommen«, fügte sie mit einem spöttischen Blick zu dem Geheimdienstchef gewandt hinzu, der schweigend im Hintergrund stand.
    »Warum habt Ihr versucht, mich zu finden?«, entfuhr es Made leine verwundert.
    »Weil wir von dem Anschlag auf Coligny erfahren haben, den du verhindert hast«, erwiderte die Medici knapp. »Es war nicht schwer herauszufinden, dass du dasselbe junge Mädchen bist, das auch am Flussufer war, als die Brücke eingestürzt ist, und dass du damals gelogen hast!«, sagte sie. »Hättest du zu jener Zeit die Wahrheit gesagt, du hättest dir viel Leid erspart«, fügte sie hinzu, und eine leichte Ungehaltenheit schwang dabei in ihrem Ton.
    Madeleine schwieg. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie auf diese Dinge zu sprechen kam, verstörte sie, und sie merkte, wie sie sich bei ihren Worten versteifte. Noch immer konnte sie sich nicht des Gefühls erwehren, dass man sie nur in eine Falle locken wollte.
    »Du solltest uns vertrauen, nachdem wir dich aus den Händen der Guise befreit haben«, sagte die Medici, als würde sie ihre Gedanken erraten.
    »Das tue ich«, erwiderte Madeleine, obwohl es nicht der Wahrheit entsprach. Sie war nicht in der Lage, irgendjemandem zu vertrauen, nach dem, was man ihr angetan hatte.
    Die Finger der Königin strichen über ihren zusammengeklappten Fächer. »Gott hat dir eine große Gabe geschenkt, mein Kind«, stellte sie schließlich sanft fest.
    Madeleine schwieg. Es war keine Gabe, dachte sie, es war ein Fluch. Alles Schreckliche, das sie in den letzten Wochen erlebt hatte, wäre nie geschehen, wenn sie diese Visionen nicht gehabt hätte. Sie blickte die

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