Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
Lebrun ihr zurückgereicht hatte, bevor sie sich auf dem Absatz umdrehte und mit stechendem Schritt das Kabinett verließ.
Madeleine blickte ihr ungläubig hinterher und wandte dann den Kopf zu Lebrun. Sie wusste nicht, was sie mehr ängstigte: der jähe Stimmungswechsel dieser Frau oder der Blick dieses Mannes, der mit unergründlichem Interesse auf ihr ruhte, als hätten ihn ihre Antworten auf eine Idee gebracht.
68
D ie Wache hatte sie zurück zu ihrem Zimmer gebracht. Wollten die Protestanten tatsächlich den König entführen? Es schien Made leine einfach nicht vorstellbar. Sie fragte sich, was sich die Hugenotten davon versprachen. Coligny hatte sich seinem Bruder gegenüber doch stets gegen einen Krieg ausgesprochen?
Furcht ergriff sie, während sie gleichzeitig merkte, wie sehr sie die Begegnung und das Gespräch mit der Medici aufgewühlt hatten. Sie musste daran denken, was die Königinmutter über ihre Gabe gesagt hatte. Zum ersten Mal hatte jemand die Visionen, die sie überkamen, als etwas Positives gewertet. Diese Haltung hatte sie gleichermaßen überrascht wie verunsichert. Wie konnte man das, was mit ihr geschah, als ein Geschenk Gottes ansehen?
Laute Stimmen, die draußen vom Hof zu hören waren, rissen sie aus ihren Gedanken. Männer schrien laut Befehle hin und her. Als Madeleine zum Fenster trat, sah sie, dass Diener und Knechte dabei waren, eilig Fuhrwagen und Esel zu beladen, und Pferde aus den Ställen gebracht wurden. Was hatte das zu bedeuten?
Hinter ihr war ein Geräusch zu vernehmen. Die Zofe, die ihr auch beim Ankleiden geholfen hatte, war mit gehetzter Miene in den Raum getreten. »Monsieur Lebrun schickt mich. Ihr sollt das hier anziehen! Sofort.«
Sie reichte Madeleine ein Gewand – und einen Schleier. »Der Hof wird sofort nach Meaux abreisen, und Monsieur meinte, es wäre zu Eurer eigenen Sicherheit besser, dass Euch niemand erkennt.«
Madeleine sah von dem Schleier zu der Zofe, deren Gesicht weiß wie eine Wand war.
»Nach Meaux, aber warum?«, fragte sie dann.
Die Zofe zögerte. »Die Festungsmauern dort sind sicherer«, erwiderte sie schließlich knapp und war, bevor Madeleine noch eine weitere Frage stellen konnte, schon aus dem Raum verschwunden.
Während Madeleine sich, so schnell es ihre Wunden erlaubten, umzog, erinnerte sie sich mit einem unangenehmen Gefühl im Bauch daran, was Lebrun auf dem Weg zur Königinmutter über die Anwesenheit der Guise am Hof gesagt hatte. Sie versuch te, die aufkeimende Angst zu unterdrücken, die nun erneut in ihr hochstieg. Dank des Schleiers würde sie niemand erkennen, versuchte sie sich zu beruhigen, doch sie war dankbar, als die Wache erschien, die auf Befehl von Lebrun an ihrer Seite bleiben würde. Der Mann geleitete sie über einen Seitenausgang in den Hof, in dem es von Menschen wimmelte, und führte sie zielstrebig zu einer Sänfte, die nur wenige Schritte vor dem Eingang für sie bereitstand. Sie wurde von zwei kräftigen Pferden getragen.
Verwundert blieb Madeleine stehen. Eine Sänfte? Niemals zuvor hatte sie sich in solch einem Gefährt vorwärtsbewegt, doch bevor sie irgendwelche Fragen stellen konnte, drängte die Wache sie auch schon einzusteigen.
Vorsichtig ließ sie sich darin nieder. Die Vorhänge schützten sie vor neugierigen Blicken, doch ihr Herz raste trotzdem.
Erst nach einer Weile wagte Madeleine, durch einen Spalt nach draußen zu lugen. Es war das erste Mal, dass sie das Schloss von außen sah, und sie verstand, warum der Hof hier so überstürzt abreiste. Die niedrigen Mauern und vergoldeten Ziertore hätten niemals einem Angriff der Hugenotten standgehalten.
Selbst die königlichen Leibgarden, die sich in einem Spalier als Begleitung für den Tross aufgestellt hatten, wirkten kaum zahlreich genug, um sich in einem Kampf behaupten zu können.
Madeleine ließ sich, soweit es ihr verletzter Rücken erlaubte, in die Sänfte zurücksinken. Der Zug hatte sich in Bewegung gesetzt, und sie hatte Mühe, sich an die ungewohnt schaukelnde Fortbewegung zu gewöhnen. Schon bald wurde ihr klar, dass die Reise alles andere als ein Vergnügen werden würde. Jede Unebenheit des Untergrundes und jeder Ruck der Pferde machten sich schmerzhaft in ihrem Körper bemerkbar, und jeder Muskel verkrampfte sich in dem Bemühen, die Balance zu halten.
Über zwei Stunden waren sie unterwegs. Die Dunkelheit war bereits hereingebrochen, als sie Meaux schließlich erreichten. Madeleine verspürte einen leichten Schwindel, als
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