Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
Münze in diesen Krieg gezogen waren, hielten sich auf diese Weise für ihre entgangene Entlohnung schadlos.
Nachdenklich näherte sich Guillaume weiter dem Wäldchen. Erst vor wenigen Tagen war der Friedensvertrag endgültig unterschrieben worden, doch an eine Rückkehr in die Niederlande war für die Seinen noch immer nicht zu denken. Im Kampf war Guillaume sich in Frankreich weniger nutzlos vorgekommen. Dort hatte er dem Admiral im Dienst an der Waffe wenigstens etwas für die großzügige Gastfreundschaft zurückgeben können, jetzt aber war er nur ein nutzloser Esser mehr. Er hoffte daher, heute zumindest etwas auf der Jagd aufzutreiben, obwohl der harte Winter den Tieren kaum weniger zugesetzt hatte als den Menschen.
Mit ernster Miene ritt er in den Wald hinein und ließ das Pferd dann im Schritttempo den kleinen Abhang hochsteigen bis zu einer Gruppe dicker alter Eichen, in deren Deckung er das Tier zum Stehen brachte. Bewegungslos verharrte er dort und lauschte aufmerksam in die Stille hinein, ob irgendwo ein verräterisches Rascheln auszumachen war. Doch er hörte nur das Zwitschern eines Vogels – und ein anderes Geräusch, stellte er überrascht fest. Es waren die Stimmen von Männern, die sich unten auf der Lichtung näherten. Er lenkte sein Pferd im Schutze der Bäume unauffällig in ihre Richtung.
Äste knackten, und man konnte Schritte im Laub hören. Sein vom Krieg geschultes Gehör konnte ausmachen, dass die Männer kein Französisch sprachen.
»Na, komm schon!«, sagte eine Stimme derb.
»Nein, lasst mich …«
Guillaume fuhr zusammen. Es war die panische Stimme einer Frau.
Man hörte das laute Reißen von Stoff.
»Nein!«, schrie die Frau.
Ohne lange zu überlegen, trieb Guillaume sein Pferd den Abhang hinunter. Zwischen den Bäumen konnte er zwei heruntergekommene Gestalten erkennen – zwei Landsknechte in bunt geschlitzten Beinkleidern, die eine Frau zwischen sich hatten. Guillaume sah, dass der eine ihr die Arme auf dem Rücken festhielt, während der andere versuchte, ihr Kleid herunterzureißen, und nun dabei war, seine Hose zu öffnen.
Verzweifelt versuchte die Frau sich zu wehren.
»Lasst mich los …«, schrie sie.
»Halts Maul!« Der Landsknecht vor ihr schlug ihr ins Gesicht.
In ihrer Geilheit bemerkten die beiden Guillaume erst, als er mit dem Pferd schon auf sie zugeprescht war. Er stieß dem mit dem geöffneten Hosenlatz den Degen mit einem gezielten Stoß in den Rücken. Der Mann sank aufstöhnend zu Boden, und Guillaume fuhr mit der Waffe schon herum, um sich dem anderen zuzuwenden. Doch dieser Feigling benutzte die Frau als Schutzschild. Er schaffte es nicht, an den Landsknecht heranzukommen. Unerwartet stieß dieser die Frau plötzlich von sich weg und wollte nach seiner Waffe greifen, doch Guillaume war schneller und hatte ihn schon mit einem heftigen Streich an der Brust touchiert. Blut sickerte durch sein Hemd. Der Mann taumelte mit einem Aufschrei nach hinten. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und versuchte stolpernd wegzurennen.
Verächtlich blickte ihm Guillaume hinterher. Er überlegte kurz, ihm hinterherzusetzen, doch es war wichtiger, sich um die Frau zu kümmern. Sie hatte schützend die Arme vor den Kopf genommen.
Er glitt aus seinem Sattel.
»Es ist alles gut. Ihr braucht keine Angst mehr zu haben. Niemand wird Euch etwas tun«, sagte er und fasste sie vorsichtig an der Schulter.
Es dauerte einen Augenblick, bevor sie die Arme nach unten sinken ließ. Sie zitterte.
Fassungslos sah er sie an. Ihr erschöpftes Gesicht war schmal und blass, und ihre Haare hingen strähnig über ihre Schultern hinunter, sodass er sie im ersten Moment fast nicht erkannt hätte. »Madeleine?«, brach es ungläubig aus ihm hervor.
»Guillaume?«
Er blickte auf ihr zerrissenes Kleid, durch das ihre nackte Haut hervorblitzte, und bereute es plötzlich, dass er den anderen Landsknecht hatte entkommen lassen.
Wortlos nahm er seinen Umhang ab und legte ihn ihr über den zerrissenen Stoff. »Komm, ich bring dich nach Châtillon!«, sagte er sanft.
89
M adame Maineville saß am Tisch und ließ die Nadel mit flinken Bewegungen durch die gerissenen Strümpfe gleiten. Im Feuer hinter ihr köchelte eine Suppe, die sie aus den Resten eines mageren Huhns und dem Kohl gekocht hatte, die ihnen noch geblieben waren. Sogar noch etwas Mehl hatte sie aufgetrieben, um von den Mägden frisches Brot backen zu lassen. Doch lange würden die Vorräte nicht mehr reichen. Es war nur der
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