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Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Titel: Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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solche Tiefen gehen lassen. Mit jedem Tag, den sie verschwunden war und er begriff, wie unwahrscheinlich es war, dass er sie jemals lebend wiedersehen würde, hatte er sich verzweifelter gefühlt. Irgendwann war dieses Gefühl schließlich in Trauer umgeschlagen, denn seine Nachforschungen hatten keinen anderen Schluss zugelassen als den, dass man sie getötet hatte! Er ballte unbewusst die Faust. Wo um Gottes willen war sie in all den Wochen und Monaten nur gewesen?
    Eine Hand berührte ihn am Arm. »Lasst sie, sie braucht den Schlaf«, sagte Madame Maineville sanft, die hinter ihm hergekommen war.
    »Ich weiß«, erwiderte er tonlos, doch er blieb stehen – selbst dann noch, als die Haushälterin den Raum längst wieder verlassen hatte.
    Sie schien ihm noch verletzlicher, als er sie in Erinnerung gehabt hatte. Er sah plötzlich wieder ihre letzte Begegnung vor sich und betrachtete gedankenvoll ihr Gesicht, als würde es ihm eine Antwort auf all die Fragen und Rätsel geben, die sich mit ihr verbanden.
    Dann bemerkte er, dass sie unerwartet die Lider geöffnet hatte und ihn aus ihren graublauen Augen benommen anblickte. Ein Lächeln glitt über ihre Lippen, scheu und ungläubig zugleich, als sie ihn erkannte. »Nicolas«, murmelte sie leise, bevor sie in ihrer Erschöpfung erneut in den Schlaf fiel.

91
    S ie stand nachdenklich am Fenster. Fast vierzehn Stunden hatte sie geschlafen, und sie fühlte sich jetzt etwas besser. Die letzten Tage erschienen ihr plötzlich nur noch wie ein ferner Albtraum. Es war schrecklich gewesen. Lebrun hatte sie von seinen Leuten in einem alten eingerissenen Kleid bis etwa zwanzig Meilen vor Châtillon bringen lassen. Man hatte ihr zuvor beinah eine Woche nichts mehr zu essen gegeben und ihr untersagt, sich zu waschen, damit sie glaubhaft den Eindruck vermittelte, dass harte, entbehrungsreiche Zeiten hinter ihr lagen und ihre Geschichte auch stimmte. Als Lebruns Leute sie schließlich am Rande eines Felds absetzten, hatte Madeleine sich so erschöpft gefühlt, dass sie kaum in der Lage gewesen war, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Immer wieder hatte sie das Gesicht ihrer Großmutter vor sich gesehen. Magdalena!
    Unerwartet war ihre Kraft dabei zurückgekehrt. Wie in Trance war sie Meile um Meile in Richtung Osten gelaufen. Doch als sie nicht mehr weit von Châtillon entfernt den Wald erreichte, hatte sie die Realität wieder eingeholt. Sie hatte die Landsknechte erst bemerkt, als sie schon vor ihr standen. Madeleines Blick glitt aus dem Fenster, und sie schauderte bei dem Gedanken, was geschehen wäre, wenn Guillaume sie nicht aus den Händen der Männer befreit hätte. Einen solchen Zwischenfall hatte Lebrun ganz sicher nicht im Kopf gehabt, als er ihre Rückkehr vorbereitete.
    Als der junge Niederländer sie später nach Châtillon brachte, hatte Madeleine das Gefühl gehabt, als würde sie nach Hause kommen. Es war eigenartig, wie stark sie mit diesem Ort und seinen Menschen verbunden war, dachte sie. Ihre Hand glitt über das Holz des Fensterbretts. Dabei hatte sie damals nur wenige Tage hier verbracht.
    »Wie geht es dir?«, riss sie eine raue Stimme aus ihren Ge danken.
    Sie drehte sich herum. Nicolas de Vardes lehnte am Türrahmen, groß und breitschultrig, wie sie ihn in Erinnerung gehabt hatte. Fast erschien er ihr noch ein wenig männlicher als früher. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie war unvorbereitet auf den Sturm von Gefühlen, den seine Gegenwart in ihr auslöste. Aufgewühlt blickte sie ihn an.
    »Besser … Ich kann nicht glauben, dass ich wirklich wieder hier bin«, erklärte sie dann leise.
    »Nun, dann sind wir schon zwei!« Er kam auf sie zu, und etwas an seinem Tonfall und der Art, wie er sie aus seinen grüngrauen Augen ansah, ließ sie noch nervöser werden, als sie es ohnehin schon war. Als er vor ihr stehen blieb, ahnte sie, wie schwierig es werden würde, ihm etwas vorzumachen.
    »Madeleine!«, sagte er mit belegter Stimme. Dann zog er sie plötzlich in seine Arme. »Ich bin froh, dass du hier bist, dass du lebst!«
    Sie wollte etwas sagen, ihm gestehen, wie sehr sie sich nach ihm gesehnt und wie unendlich sie ihn vermisst hatte, doch sie brachte kein Wort über die Lippen und spürte nur dankbar die Geborgenheit seiner Umarmung.
    Irgendwann löste er sich sanft von ihr. »Der Admiral möchte dich sehen«, teilte er ihr mit.
    Sie nickte beklommen. Man würde ihr Fragen stellen. Sie hatte gewusst, dass das geschehen würde. Auf dem Weg nach unten

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