Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
hier wirst du auswendig lernen!«
»Was ist das?«, fragte sie.
»Dein Leben, seitdem du aus Châtillon entführt wurdest …«, meinte er nur.
Sprachlos betrachtete Madeleine das Dossier, das so dick wie ein halbes Buch war. Lebrun hatte eine vollständige Legende für sie erstellen lassen, wie sie wenig später beim Lesen feststellte. Sie führte genauestens aus, was sie in den letzten Wochen und Monaten angeblich getan hatte. Nichts war dem Zufall überlassen worden. Madeleine musste zugeben, dass die Geschichte durchaus glaubwürdig klang – sie behauptete, dass die Guise sie von ihrem Palais in Montceaux nach Meaux und weiter nach Paris mitgenommen hätten, als der Hof vor den Hugenotten geflohen war. Kurz vor ihrer Ankunft in Paris habe Madeleine in ihrem geschwächten Zustand eine Ohnmacht vorgetäuscht und einen kur zen Moment der Unachtsamkeit der Wachen ausgenutzt, die gerade ihre Notdurft verrichteten, um zwischen den vielen Menschen zu fliehen. Sie sei mehrere Tage voller Angst und Hunger durch die Stadt geirrt. Die Nächte habe sie unten am Ufer der Seine verbracht, zwischen Bäumen und Büschen versteckt. Ernährt habe sie sich von den Abfällen der Marktfrauen. Dann habe sie sich daran erinnert, dass die Schwester des alten Apothekers Legrand, bei dem sie in Éclaron mit ihrer Mutter gelebt hatte, in Paris wohnte …
Bestürzt starrte Madeleine auf die Zeilen, sie sie da las. Selbst über den Apotheker wusste er Bescheid?
»Und diese Schwester von Monsieur Legrand, diese Jeanne Gaulier? Gibt es sie wirklich? Ich kann mich nicht erinnern, dass sie jemals zu Besuch in Éclaron war, wie Ihr behauptet!«
»Dieses kleine Detail ist tatsächlich erfunden, aber es gab sie tatsächlich. Sie ist vor zwei Wochen verstorben. Ein glücklicher Zufall für deine Legende«, fügte er zufrieden hinzu. »Jeanne Gaulier war verwitwet und hatte keine Kinder. Sie hat auf der Île de la Cité gewohnt und nach dem Tod ihres Mannes als Näherin gearbeitet.«
Madeleine nickte stumm. So stand es auch in dem Dossier. Die alte Frau habe sie ohne Fragen aufgenommen, als sie vor ihrer Tür gestanden habe, und sie sogar gepflegt, als sich ihre Wunden infizierten und sie krank geworden sei. Nach Jeanne Gauliers Tod habe sie sich heimlich weiter in ihrem Haus aufgehalten. Madeleine verspürte eine aufkommende Übelkeit, als sie all diese Lügen las.
»Du wirst das gründlich lernen – und zwar so gut und so lange, bis du selbst glaubst, dass das alles geschehen ist!«, ordnete Lebrun an. Es war sein Ernst. Er begann sie nicht nur regelmäßig abzufragen, sondern regelrechten Verhören zu unterziehen, während derer sie über Stunden nichts essen oder trinken durfte und er immer wieder dieselben Fragen stellte. Wenn sie Fehler machte, sich versprach oder auch einfach nur zu lange überlegen musste, fing er von vorn an. »Du wirst mir dankbar dafür sein, denn diese Übungen werden dir vielleicht einmal das Leben retten«, sagte er. Mehrmals ließ er sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf reißen, um sie seiner unbarmherzigen Befragung zu unterziehen.
Trotz aller Ängste und Bedenken sehnte Madeleine den Moment herbei, an dem sie hier endlich wegkam. Im Palast kam sie sich nur noch wie eine Gefangene vor. Der Geheimdienstchef hatte die Wachen vor ihrem Zimmer verstärken lassen. Angeblich, weil es einige Tage zuvor zwei Unbekannten gelungen war, in den geheimen Trakt einzudringen. Sie waren bewaffnet gewesen und hatten, noch bevor die Wachen sie hatten festnehmen können, die Flucht ergriffen. Später, als der gesamte Trakt durchsucht wurde, hatte man hinter einem der seidenen Wandteppiche eine alte verborgene Tür entdeckt, durch die die Männer hineingelangt waren – sie war noch am selben Tag zugemauert worden. Auch Madeleine hatte sich unwohl gefühlt, als sie von den Män nern hörte, dennoch war sie sich sicher, dass Lebrun sie nicht allein aus diesen Gründen seit Neuestem so streng bewachen ließ.
Der Zeitpunkt ihrer Abreise war jedoch noch nicht gekommen. Draußen im Land herrschte noch immer Krieg. Die Hugenotten hatten mithilfe der Söldner des pfälzischen Kurfürsten im Loiretal inzwischen nicht nur Tours und Blois eingenommen, sondern waren bis nach Chartres vorgedrungen und hatten dort die Stadt belagert. Die königliche Armee, die ihrerseits von den Schweizern und auch den spanischen Truppen aus den Niederlanden Verstärkung erhielt, hatte ein gewaltiges Heer auf die Beine gestellt. Doch sowohl Protestanten
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