Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
klugen Voraussicht von Charlotte de Laval zu verdanken, dass die Schlossbewohner überhaupt noch etwas zu essen hatten.
Bei dem Gedanken an Colignys Gemahlin ließ die Haushälterin die Nadel sinken. Sie war kurz nach Ausbruch des Krieges aus La Bonnée hierhergekommen und hatte Charlotte de Laval in dieser Zeit schätzen gelernt. Ein trauriger Ausdruck zeigte sich in den haselnussbraunen Augen von Madame Maineville. Die Warmherzigkeit und Zuversicht, die Charlotte de Laval in diesen dunklen Tagen unter ihnen verbreitet hatte, würden ihnen allen schmerzvoll fehlen. Was sollte aus ihnen nur ohne sie werden?
Schritte rissen sie aus ihren Gedanken. Nicolas de Vardes kam die Treppe zur Küche hinunter. Er war einige Tage in Orléans gewesen und sah müde aus, wie sie feststellte. Der Krieg hatte auch bei ihm seine Spuren hinterlassen. Sein ohnehin markantes Gesicht wirkte kantiger und männlicher denn je. »Wie geht es Euch, Madame Maineville?«, fragte er.
Erst jetzt erkannte sie, dass er zwei tote Fasane in der Hand hielt.
Er deutete auf die Vögel. »Die waren so unvorsichtig, mir auf dem Weg von Orléans genau vor die Füße zu fallen. Dachte, sie würden Euch bestimmt eine Freude machen!«
Ein Lächeln glitt über ihre Lippen. Es war immer Verlass auf ihn. Sie legte ihr Nähzeug zur Seite. »Mehr als das, Monsieur de Vardes!«, sagte sie. »Möchtet Ihr etwas Suppe? Ihr müsst hungrig sein nach der langen Reise.«
Er schüttelte den Kopf. »Später vielleicht!« Er ging zu einem Regal und öffnete einen Krug mit Wein – das Einzige, an dem sie auf Châtillon noch immer nicht darben mussten – und goss sich einen Becher ein.
Madame Maineville beobachtete ihn, wie er zwei große Schlucke trank. Er weiß es noch nicht, dachte sie. »Setzt Euch kurz zu mir«, bat sie ihn.
Er drehte sich überrascht zu ihr. »Ist etwas passiert?«, fragte er und stellte den Becher ab.
Die Haushälterin suchte nach den richtigen Worten. Sie kannte Vardes schon lange – seit damals, als man seinen älteren Bruder nach einem protestantischen Gottesdienst in Paris getötet hatte. Es war eine der vielen Tragödien dieser Jahre gewesen, in denen der Glaube ganze Familien zu spalten begann, denn der Vater der beiden war ein strenger Katholik. Madame Maineville wusste, wie lange Nicolas de Vardes nach diesem Erlebnis gebraucht hatte, um seinen inneren Frieden zu finden. Nur weil sie ihn aus dieser Zeit so gut kannte, war ihr nicht verborgen geblieben, was in den letzten Monaten in ihm vorgegangen war.
Sie bemerkte, dass er die Arme verschränkt hatte und sie fragend anblickte.
»Sie ist zurückgekommen«, erklärte sie.
Einen Augenblick lang schien es ihr, als würde sich die Narbe auf seiner Wange eine Spur heller als gewöhnlich von seiner ge bräunten Haut abheben. »Sie?« , fragte er ohne irgendeine Regung.
»Madeleine«, erklärte die Haushälterin leise.
Es war nur ein kurzer Moment, kaum mehr als der Bruchteil einer Sekunde, in dem sein Gesicht etwas enthüllte, das sie dennoch nicht erwartet hatte.
»Guillaume hat sie heute Nachmittag in dem Wäldchen nord westlich von hier gefunden. Sie war auf dem Weg von Paris hierher und ist dabei wohl in die Gewalt von zwei herumstreunenden Landsknechten geraten. Guillaume kam gerade noch rechtzeitig.«
Vardes’ Gesicht hatte einen unnatürlich starren Ausdruck angenommen. »Wo ist sie jetzt?«, fragte er.
»Oben in den Gemächern. Sie schläft. Sie ist sehr mitgenommen. Sie muss mehrere Tage nichts gegessen haben …« Die Haushälterin brach ab und senkte den Blick, weil sie ihm nicht alles sagen konnte. Sie dachte daran, was sie gesehen hatte. Doch es stand ihr nicht zu, darüber zu sprechen. Als sie das Kinn wieder hob, bemerkte sie erstaunt, dass Nicolas de Vardes sich bereits abgewandt hatte und mit schnellen Schritten die Treppe hochgestiegen war.
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E r stand in der Tür und starrte sprachlos auf ihre schlafende Gestalt. Die ganzen elend langen Monate war er sich sicher gewesen, dass sie tot war. Und nun lag sie hier, als wäre sie nie fort gewesen, und schlief. Er trat unwillkürlich einen Schritt näher ans Bett. Sie wirkte müde und erschöpft. Er verspürte den Wunsch, sie anzufassen, um sich zu vergewissern, dass es wirklich sie war, die dort lag, doch er blieb einfach nur stehen und sah sie an. Wut, Ohnmacht und ein unerwartetes Gefühl des Glücks, sie wiederzusehen, kämpften gleichzeitig in ihm. Seit dem Tod seines Bruders hatte kein Mensch ihn mehr durch
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