Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
Hugenotten, über die sie Lebrun mehr Informationen zukommen lassen sollte. »Hört auf damit!«, sagte sie entschieden.
Er zuckte die Achseln. »Ist Nicolas es wenigstens wert?«, fragte er dann.
Sie warf ihm einen kühlen Blick zu. Sie hatten den Eingang erreicht und betraten die Halle. »Ich verstehe nicht, wovon Ihr sprecht!«, erwiderte sie und war froh, dass sie in die andere Richtung weitergehen musste.
Sie neigte höflich den Kopf und beschleunigte ihre Schritte.
Es ärgerte sie, dass es Ronsard gelungen war, sie zu verunsichern. Entschlossen versuchte sie, die Gedanken an ihn aus ihrem Kopf zu vertreiben. Doch als sie wenig später den Verband des jungen Protestanten wechselte, dem man einige Tage zuvor einen Teil seines Arms amputiert hatte, geisterte der Wortwechsel noch immer durch ihren Kopf.
»Geht es Euch gut, Mademoiselle?«
Madeleine hielt in ihrer Bewegung inne und schaute überrascht zu ihrem sonst so wortkargen Patienten, der sie angesprochen hatte. Der junge Mann – sein Name war Jérôme, und er musste ungefähr Anfang zwanzig sein – blickte sie prüfend an.
»Habe ich Euch etwa wehgetan?«, fragte sie erschrocken.
Jérôme schüttelte seine braunen Locken, die ihm über die Schultern fielen. Sein Gesicht hatte noch immer einen wächsernen Ton, aber seine Wunde verheilte gut. »Nein, Mademoiselle, aber Ihr wirkt, als würdet Ihr ein wenig besorgt sein«, erklärte er.
Madeleine lächelte verlegen. Sie war weit mehr als nur ein wenig besorgt! Die Tatsache, dass Ronsard etwas von ihrem Verhältnis mit Nicolas zu ahnen schien und sie Lebrun irgendetwas schreiben musste, das die Hugenotten nicht verriet, war dabei noch ihre geringste Sorge. Weit mehr beunruhigte sie der unbekannte Verräter, von dem Nicolas ihr am Abend zuvor erzählt hatte. Da der Mann angeblich zum engsten Kreis der Protestanten gehören sollte, schied es aus, dass es sich dabei um einen von Lebruns Leuten handelte. Wer aber konnte sonst ein Interesse haben, die Hugenotten zu bespitzeln? Madeleine war nur eine Antwort darauf eingefallen, und die war erschreckend genug. Die Guise! Sie würden alles tun, um die Protestanten zu vernichten. Ein Spitzel aus ihren Reihen würde außerdem auch erklären, warum der Herzog d’Aumale und sein Bruder, der Kardinal, im letzten Sommer gewusst hatten, dass sie nach Châtillon gekommen war. Falls ihre Annahme jedoch stimmte, dann wussten die Guise jetzt auch, dass sie erneut zu den Hugenotten zurückgekehrt war. Sie war plötzlich dankbar, dass Châtillon so streng bewacht wurde.
Madeleine nahm wahr, dass Jérôme sie noch immer anblickte. »Ihr habt recht, ich bin wirklich sehr besorgt – so wie wir alle zurzeit wahrscheinlich«, erklärte sie mit einem ausweichenden Lächeln.
Er schaute sie offen aus seinem jungen Gesicht an. »Vertraut Gott, Mademoiselle. Unser Leben liegt in seiner Hand. Er allein weiß uns zu führen!«
»Ich bewundere Euch, dass Ihr das noch sagen könnt«, erwiderte sie aufrichtig und vermied es dabei, auf seinen Armstumpf zu blicken.
Als sie kurz darauf das Krankenzimmer verließ, verspürte sie zu ihrem Erstaunen eine leichte Gereiztheit. Dieser tiefe Glaube, diese Bereitschaft, alles Leiden als etwas anzusehen, das sie Gott näher brachte und sie daher bereitwillig auf sich nahmen, irritierte sie an den Protestanten, denn es war ihr fremd. Sie selbst hatte ganz im Gegensatz oft das Gefühl, ihr Leben sei zu unbedeutend, als dass der Allmächtige sich um die Verstrickungen ihres Schicksals kümmern würde. Sie lief weiter den Gang entlang und war so in ihre Gedanken versunken, dass sie die Hand, die plötzlich aus einer der Türen hervorschnellte, erst bemerkte, als sie schon in einen Raum gerissen wurde. Entsetzt wollte sie aufschreien, doch im gleichen Augenblick hatte sich schon eine Hand fest auf ihren Mund gepresst. Jemand drückte sie mit dem Gesicht gegen die Wand und drehte ihren Arm schmerzhaft auf dem Rücken nach innen. »Ich warte auf deinen Brief!«, zischte eine Stimme. »Glaubst du, ich will mich durch dich in Schwierigkeiten bringen lassen?« Wie zur Bestätigung erhöhte sich der Druck auf ihren Arm. Sie stöhnte vor Schmerz auf, während sie gleichzeitig Erleichterung durchflutete, weil sie Oliviers Stimme erkannte. Er nahm die Hand von ihrem Mund.
»Lass mich los!«, sagte sie mühsam beherrscht.
Er ließ ihren Arm nach unten gleiten, und sie fuhr im selben Moment zu ihm herum und entriss ihm ihr Handgelenk. »Bist du verrückt!«,
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