Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
herrschte sie ihn an. »Wenn das irgendjemand mitbekommt!«
»Du lässt mir leider keine andere Wahl. Ich warte auf deinen Bericht!«
Madeleine blickte ihn mit blitzenden Augen an. Sie spürte, wie sich die angestaute Angst und der kurzfristige Schreck, als er sie in den Raum gerissen hatte, plötzlich in Wut verwandelten. Wenn sie sich jetzt nicht gegen ihn wehrte, würde er sie ewig tyrannisieren. »Hör mir gut zu! Es geht dich überhaupt nichts an, wann ich meinen Brief oder Bericht fertig habe. Du bist für nichts anderes da, als ihn weiterzuleiten. Dir ist nicht klar, was hier gerade passiert. Man hat schon Fragen nach dir gestellt«, fuhr sie ihn leise an.
Für einen kurzen, kaum wahrnehmbaren Augenblick schien ihn der Schreck zu durchfahren. Doch dann fing er sich sofort wieder. »Du lügst!«, sagte er. Er beugte sich zu ihr. »Ich weiß, was mit dir ist. Du sympathisierst mit diesem Ketzerpack, nicht wahr? Das sehe ich dir an. Aber das tust du nur, weil du nicht ihr wahres Gesicht kennst, weil du nicht gesehen hast, wie sie Mönche und Priester töten und unsere Kirchen zerstören!«, zischte er hasserfüllt.
Ungläubig blickte sie ihn an. Der Fanatismus, der ihr aus seinen Augen entgegenschlug, erschreckte sie. »Glaubst du, du bist der Einzige, der weiß, was in diesem Land geschieht?«, erwiderte sie schließlich. Sie stieß ihn zur Seite und wollte an ihm vorbeigehen, doch dann drehte sie sich noch einmal zu ihm um. »Du wirst deinen Brief bekommen, aber wage es nicht noch einmal, uns beide in solche Gefahr zu bringen«, sagte sie.
Erleichtert, dass niemand im Flur zu sehen war, trat sie nach draußen. Eine eigentümliche Kälte hatte sie ergriffen. Sie musste handeln und würde Lebrun seinen Bericht schreiben. Er wollte Informationen über die Hugenotten? Dann sollte er sie bekommen, dachte Madeleine und presste die Lippen zusammen. Sie würde ihm jedes noch so unwichtige und unbedeutende Detail mitteilen. Sie würde ihm berichten, dass Coligny um seine Frau trauerte und Madame Maineville inzwischen als Haushälterin hier arbeitete, dass Ronsard sich unverändert der Beliebtheit bei den Frauen erfreute und auch, dass vor zwei Tagen ein Gebäude, in dem Waffen gelagert wurden, auf Châtillon explodiert war. All das würde sie ihn wissen lassen. Aber auch wenn sie ihm schreiben würde, wie angespannt die Stimmung war, würde sie kein Wort darüber verlieren, wie weit die Besorgnis der Hugenotten wirklich ging. Er würde weder erfahren, dass die Protestanten beschlossen hatten, ihre Waffen nicht abzugeben, noch, dass es in ihren eigenen Reihen einen Verräter zu geben schien. Nichts, was Madeleine im Schein der Kerze später in ihrem Zimmer zu Papier brachte, würde die Hugenotten ernstlich in Gefahr bringen. Sie war nicht bereit, zur Verräterin zu werden – eher würde sie lügen.
99
G edämpftes Kerzenlicht erhellte die von Baldachinen geschmück ten Räume. Das Stimmengewirr und Gelächter der Höflinge hatte sich mit dem Lautenspiel der Musiker vermischt, und der Ge ruch von Wein und menschlichen Ausdünstungen hing in der Luft. Die Königinmutter ließ die Augen über die Gäste des Maskenballs schweifen, denen das Fest zu gefallen schien. Wie immer ging es bei diesen Anlässen etwas lauter und derber zu. Doch sie wusste, dass der Hof von Zeit zu Zeit diese Feste brauchte. Die Kostüme erlaubten es den Höflingen, in die Anonymität zu tauchen und sich freier und ungezwungener zu verhalten, als es ihnen das höfische Leben sonst erlaubte. Ihr Blick fiel auf einen Mann im Kostüm eines Orientalen, der gierig mit bloßen Fingern das Fleisch, das ihm ein Diener auf einer Platte reichte, verschlang. Etwas weiter stand eine tief dekolletierte maskierte Frau zwischen zwei venezianischen Edelleuten und ließ sich ihre Schultern mit Küssen bedecken. Die Medici ahnte, dass es sich um eine ihrer Hofdamen handelte, ignorierte ihr Treiben jedoch. Auch sie selbst war kostümiert und trug das schwarz-weiße Kleid eines Domino. Sie hatte jedoch auf eine Maske verzichtet, da ihre stattliche Figur und die Hofdamen um sie herum sie ohnehin verrieten. Erneut ließ sie ihre Augen über die Gäste wandern und entdeckte den spanischen Botschafter, den Herzog d’Alava, der ebenfalls unmaskiert war und sich im Gespräch mit zwei anderen Herren befand. Er neigte höflich den Kopf in ihre Richtung und kam dann auf sie zu. Ein Zwerg, der seinen Umhang trug, begleitete ihn.
»Euer Majestät. Wie immer ein
Weitere Kostenlose Bücher