Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
ihr.
Gerade noch rechtzeitig sah er, dass sie sich im Laufen umdrehte, und wich instinktiv ein Stück weiter zurück. Schließlich verschwand ihre Gestalt zwischen den Leuten. San Lorenzo kniff die Augen zusammen, aber sie war nicht mehr zu sehen. Er konn te es noch immer nicht fassen, dass sie tatsächlich zurückgekommen war. Die Geschichte, die sie dem Admiral in Châtillon aufgetischt hatte, war überzeugend gewesen. Selbst er wäre in Versuchung gewesen, ihr zu glauben, wenn er nicht die Wahrheit gekannt hätte – nämlich, dass sie keineswegs auf der Reise nach Paris durch eine Unachtsamkeit der Wachen, sondern bereits etliche Tage zuvor aus dem Kerker der Guise in Meaux geflohen war, und zwar mit fremder Hilfe, wie ihm der Herzog d’Alava berichtet hatte.
Es war ihm inzwischen gelungen, ihr Zimmer zu durchsuchen. Sie besaß wenig, und auf den ersten Blick hatte er nichts Auffälli ges gesehen – doch dann hatte er zwischen ihrer Kleidung Papier und Feder entdeckt. Sie hatte sie, sorgfältig in ein Tuch gewickelt, unter ihren Sachen in einer Kommode versteckt. Der Gänsekiel war noch feucht von der Tinte gewesen.
Aber wem schrieb eine junge Frau, die keinerlei Familie besaß, in diesen Zeiten? Wer um Gottes willen war sie wirklich oder, besser gefragt, wer hatte sie hierhergeschickt?
Mit angespannter Miene trat San Lorenzo zwischen den Häusern hervor. Er brauchte mehr Informationen! Leider hatte ihm der spanische Botschafter auf seinen letzten Brief, in dem er ihm von ihrer überraschenden Rückkehr nach Châtillon berichtet hat te, nicht geantwortet. Er fragte sich, ob sein Schreiben überhaupt angekommen war. Die ständigen Ortswechsel und die Übergriffe, die es allerorten gab, erschwerten ihre Korrespondenz auf unvorhergesehene Weise.
Sein Blick glitt zu dem Krämerladen. Er würde zurückkommen und herausbekommen, was sie dort gemacht hatte. Jetzt war jedoch nicht der richtige Zeitpunkt – es waren zu viele Menschen unterwegs, und jeder konnte ihn erkennen. San Lorenzo wusste, dass er vorsichtig sein musste. Es stand zu viel auf dem Spiel – nun, da sich das Rad endlich zu ihren Gunsten gedreht hatte.
Ein befriedigtes Lächeln glitt über seine Lippen, als er sich an die Nachricht erinnerte, die heute Morgen ein Bote ins Haus des Admirals gebracht hatte. Er sah die empörten, aufgebrachten Gesichter der Hugenotten noch immer mit Genugtuung vor sich. Der französische König hatte mit einem neuen Edikt die Ausübung der protestantischen Konfession verbieten lassen. Die reformierten Pastoren waren angewiesen worden, das Land innerhalb von zwei Wochen zu verlassen, und alle königlichen Offiziere durften von nun an nur noch Katholiken sein. Endlich tat Frankreich das, was sich Spanien schon lange wünschte und forderte!
San Lorenzo musste zugeben, dass die Guise in dieser Angelegenheit Stärke bewiesen hatten, denn das Edikt von Saint-Maur trug unverkennbar die Handschrift des Kardinals de Lorraine, der seinen neu gewonnenen Einfluss auf den französischen König geltend gemacht hatte. Nun würde es erneut zum Krieg kom men – einem Kampf, den sein Herr, der spanische König Philipp II. mit Freuden begrüßte und – genau wie der Papst – mit allen Mitteln unterstützen würde, um die Protestanten in Europa endgültig zu vernichten!
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M adeleine war froh, als sie wieder das Palais erreicht hatte. Die Wachen nickten ihr freundlich zu. Als sie aus dem Krämerladen gekommen war, hatte sie das ungute Gefühl gehabt, jemand würde sie beobachten. Mehrmals hatte sie sich umgedreht, aber sie hatte niemanden gesehen.
Ihre Hand umklammerte das Päckchen mit den Kräutern fester, als sie, den Blick auf den Boden gerichtet, über den Hof lief. Sie hatte Angst, stellte sie fest. Jedes unbekannte Gesicht, das sie sah, erweckte ihr Misstrauen.
Vor zwei Tagen hatte sie sogar den Verdacht gehabt, jemand hätte ihr Zimmer durchsucht. Sie war überzeugt gewesen, die Feder und das Papier zwischen ihrem Kleid und dem Schultertuch versteckt zu haben, doch es lag plötzlich zwischen Kleid und Unterrock. Madeleine seufzte. Vielleicht bildete sie sich auch alles nur ein? Es war kein Wunder, dass sie wahrscheinlich schon an Verfolgungswahn litt. Sie straffte die Schultern und beschleunigte ihren Schritt, als sie auf das Hauptportal zutrat und unversehens gegen eine Gestalt prallte, die gerade schwungvoll aus der Tür trat. Das Päckchen mit ihren Kräutern fiel zu Boden.
»Oh, Verzeihung, Mademoiselle! Wie
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