Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
Späher vorausgeschickt. Als die ersten von ihnen zurückkamen, bestätigten sich ihre schlimmsten Befürchtungen. Soldaten der feindlichen Truppen hielten die Brücken besetzt. »Es sind viele – ein halbes Regiment bestimmt –, und sie stehen von den Brücken aus in Verbindung mit weiteren Männern ihrer Armee. Wir haben keine Möglichkeit, dort hinüberzukommen«, sagte einer der Kundschafter niedergeschlagen, und die anderen nickten ebenfalls.
»Sie haben gewusst, dass wir uns im Falle einer Flucht nach La Rochelle begeben würden!«, sagte Nicolas grimmig. Die Lage schien ausweglos. Der Admiral lief mit angespannter Miene auf und ab. Schließlich berieten sich die Männer, was am besten zu tun sei. Den Fluss im tiefen Wasser der Strömung zu durchqueren war zu gefährlich. Der Prinz de Condé schlug vor, die Frauen und Kinder mit einigen Soldaten zunächst zurückzulassen und sich mit einer Vorhut dem Kampf zu stellen. Es schien die einzige Lösung.
Da erreichte noch einer ihrer Späher das Lager. Er sei das Ufer der Loire einige Meilen in die andere Richtung abgeritten, berichtete er außer Atem. Auch dort würden die Brücken bewacht, und er hätte zahlreiche Soldaten gesehen. Aber unweit eines Waldgebiets bei Sancerre gäbe es zwischen zwei Brücken eine Biegung, in der der Fluss sich in mehrere Arme teilte, die später wieder zusammenflossen. Der Wasserstand sei dort dank der sommerlichen Hitze so niedrig, dass er gerade einmal bis zum Knie reiche, berichtete er aufgeregt.
Sie brachen sofort auf. Es glich einem Wunder. Als sie alle sicher das andere Ufer erreicht hatten, saß der Admiral ab und kniete sich für einen Moment zum Gebet nieder.
Später, als sie längst weitergeritten waren, lenkte er sein Pferd zu seiner Tochter Louise. Er legte ihr die Hand auf die Schulter. »Als Moses einst sein Volk aus Ägypten herausführte, da hat er das Rote Meer für sie geteilt, damit sie es durchqueren konnten, genau wie er uns an diese Stelle des Flusses geführt hat, damit wir ihn passieren können«, hörte Madeleine ihn sagen. »Gott ist immer an deiner Seite, Louise. Auch in den dunklen Stunden, in denen du Angst hast. Vergiss das nie!«, sagte er. Das Mädchen nickte und lächelte scheu.
La Rochelle, September 1568 …
106
H elle Steinfassaden erhoben sich vor dem Meer, und eine angenehme Brise wehte an diesem späten Septembertag durch die Straßen, die den Gestank der stickigen Sommerluft aufs Wasser hinaustrieb. Madeleine stand oben zwischen den Zinnen der Mauer, die die Stadt von allen Seiten umschloss, und blickte auf das leuchtende Blau hinaus. Es konnte in der Tat keinen sichereren Ort für die Protestanten geben als diese Stadt, denn La Rochelle glich einer Festung. Sogar zum Hafen hin wurde es von gewaltigen Mauern umgeben, sodass die Bewohner auch vor unliebsamen Eindringlingen vom Meer aus geschützt waren. Zwei große mächtige Türme flankierten den Eingang des Hafens, der während der Nacht mit einer riesigen schweren Kette geschlossen wurde.
Madeleine kam oft hierher. Im Gegensatz zu Châtillon und Noyers konnte auch sie sich in der Stadt ohne Gefahr frei bewe gen. Sie betrachtete das Wasser vor sich. Als sie Anfang September La Rochelle erreicht hatten, hatte sie zum ersten Mal in ihrem Leben das Meer gesehen. Es war ihr in seiner Weite unendlich schön und bedrohlich zugleich erschienen, und seitdem war sie fasziniert davon, wie es täglich je nach Wind und Wetter seinen Farbton wechselte. Auch heute konnte sie sich nur zögerlich von diesem Anblick trennen, doch der Brief, den sie bei sich trug, musste auf den Weg gebracht werden. Während sie die steinernen Stufen hinunterstieg, hatte sie das Gefühl, ein schweres Gewicht würde auf ihre Schultern drücken.
Kurz nach ihrer Ankunft hier hatte Olivier plötzlich vor ihr gestanden. Er war mit etlichen anderen Leuten aus dem Gefolge von Châtillon nachgekommen. Der Stallknecht hatte nicht einmal et was sagen müssen. Madeleine wusste auch so, was sie zu tun hatte. Die Drohungen des Geheimdienstchefs waren in ihren Gedanken gegenwärtig. Mit ausdrucksloser Miene hatte ihr Olivier mitgeteilt, dass sie ihre Briefe von nun an zu einem Krämer, einem gewissen Monsieur Salisse, bringen sollte, der sie weiterleiten würde.
Noch am selben Abend hatte Madeleine Lebrun einen ausführlichen Bericht geschrieben. Sie hatte ihm alles über ihren Aufbruch und ihre Reise nach La Rochelle mitgeteilt und berichtete seitdem regelmäßig über die
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