Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
betroffen und aufgelöst. Sie überlegte, was sie tun sollte. Sie konnte Monsieur Salisse unmöglich zwischen all den Menschen ihren Brief geben. Sollte sie später wiederkommen? In diesem Augenblick löste sich die Gestalt eines Mannes, die am Rand stand, aus der Menge und kam auf sie zu. Es war Doktor Bruno. Er lief wie ein gewöhnlicher Passant, weder besonders schnell noch langsam, doch seine Mundpartie wirkte eindeutig angespannt. Ohne auch nur stehen zu bleiben, zog er sie am Arm unauffällig mit sich, in die Richtung, aus der sie gekommen war.
»Was soll das?« Sie wollte sich losmachen, doch er hielt sie mit unerwarteter Kraft fest.
»Kommt hier weg, sofort!«, sagte er leise.
Sie schaute ihn an. »Was ist denn passiert?«, fragte sie verwirrt.
»Nicht hier. Und versucht um Gottes willen nicht so zu schauen«, fügte er zwischen zusammengepressten Zähnen hinzu, während er sie weiter mit sich zog, denn ein ihnen entgegenkommender Mann starrte sie bereits neugierig an.
Wortlos überließ sich Madeleine seiner Führung. Sie liefen bis zum Ende der Straße, und erst zwei Ecken weiter, in einer leeren Gasse, blieb Doktor Bruno endlich stehen.
Sein Gesicht war unnatürlich blass.
»Monsieur Salisse, der Krämer, wurde ermordet«, berichtete er mit gesenkter Stimme. Sie bemerkte überrascht die Angst in dem Gesicht des Chirurgen. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken.
»Ermordet?«
Monsieur Bruno nickte. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, auf der sich trotz des kühlen Windes ein feiner Schweißfilm zeigte. »Ja, und sein Laden wurde anscheinend durchsucht!«
Madeleine spürte, wie ihr plötzlich schwindlig wurde. Sie lehnte sich gegen die Hauswand. Entsetzt blickte sie Doktor Bruno an. »Meine Briefe! Ich habe ihm erst vorgestern ein Schreiben gegeben!«, sagte sie tonlos.
»Gewöhnlich hat Monsieur Salisse die Briefe schnellstmöglich an einen reisenden Händler weitergegeben. Wir können nur hoffen, dass nichts mehr in seinem Laden war«, erwiderte der Chirurg. Er griff sich mit einer Geste, als stünde er kurz vor dem Ersticken, an den Kragen, um diesen zu lockern. Erst in diesem Moment begriff Madeleine, dass er dem Krämer anscheinend ebenfalls seine Briefe anvertraut hatte.
»Und es war auf keinen Fall ein Überfall?«, fragte sie.
Monsieur Bruno schüttelte den Kopf. »Nein, der Krämer war arm und konnte von seinem Laden kaum leben. Deshalb hat er ja die Botendienste übernommen! Und warum sollte jemand bei einem Überfall alles durchsuchen?«
Madeleine versuchte gegen die Panik anzukämpfen, die bei seinen Worten erneut in ihr hochstieg. Ihr Herz schlug bis zum Hals. »Ich habe Angst!«, erklärte sie leise. Es war die Wahrheit. Auch wenn die Berichte, die sie Lebrun schrieb, nach einem Code von Wörtern verschlüsselt waren, war ihr klar, in welcher Gefahr sie sich befand, wenn jemand sie gefunden haben sollte. Sie erinnerte sich plötzlich daran, dass sie nach ihrem letzten Besuch im Laden geglaubt hatte, verfolgt zu werden, und es kam ihr vor, als würde ein unsichtbarer schwarzer Schatten um sie schweben, der nur darauf wartete zuzugreifen.
Sie sollte fliehen, dachte sie, als sie später wieder zurück im Palais war. Weit weg, in ein anderes Land, in dem sie niemand kannte. Doch sie war sich sicher, dass Lebrun sie überall aufspüren würde – und das war nicht der einzige Grund, warum sie den Gedanken an eine Flucht gar nicht weiter erwog. Sie liebte Nicolas – ein Leben ohne ihn konnte sie sich nicht vorstellen. Nachdenklich starrte sie vor sich in das Feuer des kleinen Kamins.
Als Nicolas später in der Nacht zu ihr kam, fragte sie sich zum ersten Mal, in welche Gefahr sie ihre Gefühle für ihn wirklich bringen würden.
»Was ist mit dir?« Er strich ihr sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Noch immer war ihr die Unruhe anzumerken. Besorgt schaute Nicolas sie an, und sie merkte, wie ihr die Tränen in die Augen traten. Es zerriss sie, dass sie ihm nicht die Wahrheit sagen konnte. »Ich habe Angst!«, sagte sie zum zweiten Mal an diesem Tag.
Er zog sie in seine Arme. »Wovor? Vor dem Krieg?«
»Vor allem. Vor meinen Visionen, davor, dass ich konvertieren soll, vor den Guise …« Sie brach ab. »Ich blicke in die Gesichter von fremden Menschen und fürchte mich vor ihnen. In den letzten Tagen bin ich manchmal zur Wehrmauer am Hafen gelaufen, und ich hatte das Gefühl, jemand würde mich beobachten«, fuhr sie leise fort.
Nicolas’ Augen wurden schmaler.
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