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Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Titel: Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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ungeschickt von mir …« Der junge Mann, um den es sich vor ihr handelte, bückte sich, um das Päckchen aufzuheben. Mit höflicher Geste lüftete er den Hut. Er besaß bereits eine ausgeprägt männliche Statur, die von der offiziellen militärischen Kleidung, die er trug, noch unterstrichen wurde, doch sein Gesicht war noch jung. Madeleine schätzte ihn nicht älter als fünfzehn. Seine braunen Augen kamen ihr unerwartet bekannt vor.
    »Ich muss mich entschuldigen, Mademoiselle«, sagte er und blickte sie plötzlich erstaunt an – im selben Augenblick, als auch sie erstarrt erkannte, wer er war: der Junge, den sie damals in Éclaron daran gehindert hatte, die einstürzende Brücke zu überqueren! Irritiert fragte sie sich, was er hier zu suchen hatte.
    Ein breites Lächeln überzog sein Gesicht. »Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns noch einmal begegnen würden, Mademoiselle. Umso erfreuter seht Ihr mich. Sagt, wie verschlägt es Euch hierher?«, fragte er.
    Ihr fiel auf, wie gewählt, ja fast ein wenig steif er sich für sein jugendliches Alter ausdrückte, und sie lächelte. »Mir liegt die glei che Frage auf den Lippen …«, sagte sie.
    »Nun, meine Mutter ist hier«, antwortete er, als würde das alles erklären. Er bemerkte ihren verständnislosen Blick und tippte sich mit der Hand an den Hut. »Oh, natürlich. Bei unserer letzten Begegnung hatte ich nicht mehr die Möglichkeit, mich vorzustellen, da sich die Ereignisse etwas überschlugen …« Er grinste verschmitzt. »Mein Name ist Henri – Henri, Prinz de Navarre!«
    Einen Moment lang fehlten Madeleine die Worte, als sie begriff, was er da eben gesagt hatte. Er war der Sohn von Jeanne d’Albret, der Königin von Navarre?!
    »Ich heiße Madeleine Kolb«, sagte sie schließlich, als sie ihre Sprache wiederfand, und neigte höflich den Kopf.
    Er nickte, und sein Blick streifte ihr Gesicht und ihre Figur für einen kurzen Moment mit überraschend männlichem Interesse. Dann lächelte er jedoch sogleich wieder jungenhaft.
    »Würdet Ihr mir angesichts unseres unverhofften Wiedersehens die Gunst eines kurzen Spaziergangs im Garten schenken?«, bat er.
    Sie nickte. »Nur zu gerne.«
    »Ich hatte nie die Gelegenheit, mich bei Euch zu bedanken. Ihr habt mir damals immerhin das Leben gerettet«, sagte Henri, als sie wenig später durch den Garten liefen, der sich an das Palais anschloss.
    »Aber das habe ich nicht!«, widersprach sie.
    »O doch, Mademoiselle. Darf ich Euch etwas fragen? Es ist etwas, das mich immer wieder beschäftigt hat.« Mit unerwartetem Ernst wandte er ihr sein Gesicht zu.
    »Sicher«, erwiderte sie.
    »Was genau habt Ihr damals am Fluss gesehen?«
    Sie war verunsichert und wollte es leugnen, doch dann sah sie seine Augen. Durch ihre Vision fühlte sie sich auf seltsame Weise mit ihm verbunden, und er kam ihr vertraut vor.
    »Bitte, ich weiß, dass Ihr es vorhergesehen habt, und ich habe es nie jemandem erzählt, aber ich muss es für mich wissen. Ihr habt mich gesehen, nicht wahr? Was wäre mit mir geschehen?«, fragte er sie leise.
    Ihre graublauen Augen schauten ihn offen an. Sie kam sich plötzlich alt vor. »Warum wollt Ihr das wissen?«
    Seine Finger fuhren über den Knauf seines Degens. »Als Ihr damals am Fluss standet, kurz bevor Ihr das Bewusstsein verlort, habt Ihr mich so entsetzt und verzweifelt angesehen. Diesen Gesichtsausdruck, ich habe ihn in all den Jahren nie vergessen. Sagt es mir – was wäre mit mir passiert?«
    Madeleine schwieg einen Moment lang. »Ihr wäret von der Brücke in den Fluss gerissen worden – mit Eurem Pferd. Euer Fuß hätte sich im Steigbügel verfangen …«, sagte sie tonlos und schloss unwillkürlich die Augen, weil sie wieder sein Gesicht vor sich sah, als er in die Tiefen des Flusses gezogen wurde. »Ihr wäret ertrunken«, fügte sie leise hinzu.
    Er war blass geworden. »Danke! Ich habe immer geahnt, dass so etwas geschehen wäre.« Er lächelte schief. »Das Wasser und ich scheinen nicht füreinander geschaffen zu sein. Ob Ihr es glaubt oder nicht – kurz nach meiner Ankunft hier bin ich auf einem der Deiche spazieren gegangen und dabei abgerutscht und ins Meer gestürzt. Einer der Offiziere musste mich aus dem Wasser ziehen.«
    Sie blickte ihn ungläubig an. »Ihr solltet wahrhaftig vorsichtiger sein!«
    Henri war vor ihr stehen geblieben. »Das sollte ich«, gab er zu. »Und ich danke Euch. Es ist wohl anzunehmen, dass der Allmächtige noch anderes mit mir vorhat, wenn er auf so

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