Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
Gestalt am Eingang stehen. Es war Nicolas. Wortlos blickte er sie an, dann drehte er sich um und verschwand wieder.
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M an hatte ihr verordnet, die nächsten beiden Tage halb liegend auf einem Karren zu reisen, den man mit Stroh und Decken gepolstert hatte. Dennoch war jede Unebenheit, jeder Stock und jeder Stein durch den Boden zu spüren, und sie war sich nicht sicher, ob der aufrechte Sitz auf einem Pferd nicht weit erholsamer und weniger anstrengend gewesen wäre. Trotz ihres Zustandes ritten zwei Wachen neben ihr, die sie nicht vergessen ließen, dass sie eine Gefangene war.
Der Zug überquerte ohne Schwierigkeiten die Saône. Die Trup pen des Herzogs d’Aumale, die sie daran hatten hindern wollen, waren erfolgreich in die Flucht geschlagen worden.
Die Luft war mild, und die Sonne schien, doch Madeleine nahm kaum etwas von der Welt um sich herum wahr. Obwohl sie körperlich schnell wieder genas, hatte sich die Trauer um ihr Kind wie ein schwarzer Schatten auf sie gelegt. Die Tage verstrichen, und während der Armeezug auf seinem Weg nach Westen weiter in die Bourgogne vordrang, fühlte sie eine Einsamkeit, die sie frösteln ließ. Dunkel erinnerte sie sich, dass Nicolas im Zelt gewesen war, als sie das Kind verloren hatte. Sie dachte an Lebruns Drohung, dass ihm etwas passieren könnte, wenn sie nicht die gewünschten Informationen lieferte. Irgendwie musste sie ihn dazu bringen, ihr zuzuhören. Sie musste Nicolas davon erzählen. Doch sie fürchtete sich davor, ihm gegenüberzutreten.
Am späten Abend, als es im Lager ruhig geworden war, griff sie schließlich doch nach ihrem Umhang. Eine der Wachen trat ihr entgegen, als sie das Zelt verlassen wollte.
Müde blickte sie den Mann an. »Ich muss dringend mit Monsieur de Vardes sprechen. Es ist wichtig«, erklärte sie. »Begleitet mich, wenn Ihr mir nicht glaubt.«
Die Wache zögerte, doch schließlich nickte der Mann.
Nicolas’ Zelt befand sich zu ihrer Überraschung nur wenige Schritte entfernt. Er war allein.
»Sie sagt, sie müsse dringend mit Euch sprechen, Monsieur de Vardes«, erklärte die Wache entschuldigend.
Nicolas, der einen Brief in den Händen hielt, hob den Kopf. Sein Blick war ernst, beinah düster, und einen Moment lang schien es, als hätte er gar nicht richtig zugehört. Schließlich nickte er.
Madeleines Herz klopfte. »Ich weiß, dass du mir nicht glaubst und mir auch nicht mehr vertraust«, sagte sie, als sie allein waren. »Aber ich bitte dich, mich anzuhören und mich nicht zu verurteilen, bevor du alles erfahren hast und die ganze Wahrheit kennst«, fing sie an, aber Nicolas unterbrach sie. Langsam schüttelte er den Kopf. »Es geht nicht um die Frage, ob ich verstehe, was du getan hast, sondern allein darum, dass du uns verraten hast. Du hast in Verbindung mit dem Geheimdienst der Medici gestanden und Lebrun Informationen von uns zugespielt. Nur das ist von Bedeutung«, erwiderte er. Die Kälte war aus seinem Ton gewichen, doch seine Worte klangen noch immer distanziert. Im Schein des Kerzenlichts fiel ihr plötzlich auf, dass er wie erschlagen wirkte, als wäre er innerhalb von Tagen um Jahre gealtert.
»Bitte, gib mir die Möglichkeit, es zu erklären, Nicolas«, sagte sie leise. »Nur dieses eine Mal. Um mehr werde ich dich nicht bitten.«
»Ich denke nicht, dass das jetzt ein guter Zeitpunkt ist«, entgegnete er mit belegter Stimme. »Ich habe gerade erfahren, dass man den Prinzen de Condé getötet hat!«
Madeleine blickte ihn bestürzt an. Sie wusste, welch ungeheure Bedeutung der Prinz für die Protestanten hatte. Condé war nicht nur von königlichem Geblüt, sondern ihr Anführer gewesen – unter seiner Fahne hatten sie alle gekämpft.
»Der Admiral hat mich gebeten, umgehend nach La Rochelle zu kommen«, fuhr Nicolas fort, der noch immer unter Schock zu stehen schien. »Ich werde morgen früh mit einigen Spähern und Männern aufbrechen.«
»Was wird mit mir werden?«
»Du wirst mitkommen müssen. Was mit dir weiter geschieht, wird der Admiral entscheiden!«
Sie schluckte, doch dann nickte sie. Trotz der Angst, was das bedeuten würde, war ein Teil von ihr erleichtert, dass sie nun endlich nicht mehr lügen musste. »Gut«, sagte sie und wandte sich zum Gehen. »Trotzdem musst du wissen, dass du in Gefahr schwebst. Lebrun wusste von unserem Verhältnis und er hat mich damit erpresst, dass dir etwas geschehen könnte, wenn ich nicht das tue, was man von mir verlangt«, fügte sie noch hinzu. Ohne seine
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