Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
sagen – Olivier, der Stallknecht aus Châtillon, aber ich weiß, dass es weitere gibt. Lebrun hat es mir gesagt, weil er mir damit immer klargemacht hat, dass ich deshalb auch bei euch weiter unter seiner Kontrolle stehe.«
Er schwieg. Dann wandte er sich ab. »Wir brechen in einer halben Stunde auf. Eine Wache wird dich abholen«, sagte er, bevor er das Zimmer verließ.
Mühsam hielt sie sich während des Tages auf dem Pferd. Nicolas mied sie und sprach nicht mit ihr. Madeleine fühlte sich müde und kraftlos. Alles war ihr mit einem Mal gleichgültig. Etwas in ihr war tot und ließ sie nichts mehr spüren – weder Hunger noch Durst, ja nicht einmal den Regen, der am Nachmittag einsetzte und ihr kalt ins Gesicht schnitt.
Als sie am Abend an ihrem Lagerplatz absaß, war ihr schwindlig, und sie spürte ein unerwartetes Ziehen im Bauch. Sie strauchelte, und eine der Wachen konnte sie gerade noch halten. »Was ist mit Euch?«, fragte er, als er ihr bleiches Gesicht bemerkte.
»Nichts«, sagte sie. Dann spürte sie erneut einen Krampf. Sie merkte, dass etwas nicht stimmte. Alles schien sich plötzlich um sie herum zu drehen. Etwas Warmes rann an ihren Oberschenkeln hinab. Nein. Bitte nicht. Nicht das Kind! , dachte sie voller Angst. Halt suchend wollte sie nach dem Arm der Wache greifen, als ihr auch schon schwarz vor Augen wurde und sie das Bewusstsein verlor.
Als sie wieder zu sich kam, lag sie auf einem Lager in einem Zelt. Menschen standen um sie herum und sprachen hektisch miteinan der. Auf ihrer Stirn befand sich ein nasser Lappen. Madeleine wollte sich aufrichten, doch Hände drückten sie zurück. Sie erkannte die Gesichter der beiden herzoglichen Leibärzte, die sich besorgt über sie gebeugt hatten. Eine Magd wrang über einer Schüssel ein Tuch aus. Das Wasser war rot gefärbt – von ihrem Blut. Ihr Unterleib schmerzte, und sie begriff, dass sie das Kind verloren hatte. Sie weinte. Warum? Fast dankbar nahm sie wahr, wie ihr erneut die Sinne schwanden.
Mehrmals wachte sie in den nächsten Stunden kurz auf. Noch immer standen Menschen um sie herum, die leise miteinander redeten, doch ihre Stimmen waren ruhiger geworden und klangen weniger besorgt. Für einen kurzen Moment tauchte Nicolas’ Gesicht zwischen ihnen auf. Die Kälte war aus seinem Gesicht gewichen, als er sie ansah, und hatte einem anderen Ausdruck Platz gemacht. Es war eine Mischung aus Sprachlosigkeit und Schmerz, die sie bis ins Mark traf. Sie wünschte sich, ihm sagen zu können, dass sie ihm von dem Kind hatte erzählen wollen und wie unendlich leid ihr alles tat, doch sie war zu schwach. Erneut sank sie in eine Ohnmacht.
Als sie das nächste Mal zu sich kam, waren die Schmerzen weniger stark. Jemand tätschelte ihren Arm. Man richtete sie auf und flößte ihr einen bitter schmeckenden Trunk ein, der sie tief schlafen ließ.
Am Morgen darauf erwachte sie und sah, dass nur noch eine Magd am Fuße ihres Lagers saß. Verwirrt blickte Madeleine die Frau an. Es war heller Tag. »Wie spät ist es?«, fragte sie.
»Schon Mittag. Ich soll Euch fragen, ob Ihr etwas essen möchtet. Das solltet Ihr, um wieder zu Kräften zu kommen«, fügte die Magd hinzu. In ihrem verbrauchten Gesicht zeigte sich ein Ausdruck des Mitleids.
Madeleine nickte. Sie verspürte tatsächlich etwas Hunger.
»Hat man mich denn zurückgelassen? Ist der Zug weitergezogen?«, erkundigte sie sich vorsichtig.
Die Magd wirkte überrascht. »Nein. Es gab feindliche Stellungen am Ufer und den Brücken der Saône. Erst wenn der Weg freigekämpft ist, wird der Versorgungstross nachziehen.«
Madeleine erinnerte sich, dass Nicolas ihr erzählt hatte, dass man den Teil des Zuges, in dem Nahrungsvorräte, Ersatzwaffen, Munition und Werkzeuge mitgeführt wurden, immer in besonderer Weise schützte, da er für das Überleben der Soldaten unabdingbar war.
Bei dem Gedanken an ihn kehrte ihre Niedergeschlagenheit schlagartig zurück. Wieder stiegen Tränen in ihr hoch, als sie an das Kind dachte, das sie verloren hatte.
Die Magd brachte ihr etwas Suppe und Brot, und sie zwang sich, davon zu essen. Später sah der Leibarzt des Herzogs noch einmal nach ihr. »Ihr habt Glück gehabt, weil Ihr noch in den ersten Wochen wart, Fräulein«, sagte er mit ernster Miene auf Deutsch und schenkte ihr einen mahnenden Blick aus seinen eisblauen Augen, der deutlich sein Missfallen über ihr moralisches Verhalten verriet.
Sie nickte stumm.
Als der Leibarzt das Zelt verließ, sah sie eine
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