Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
vorgeschoben.
Madeleine ließ sich erschöpft auf dem stinkenden Stroh nieder und trank gierig ein Schluck von dem Wasser, das in einem verbeul ten Krug auf dem Boden stand. Ihre Handgelenke schmerzten.
Sie fragte sich, wo man Nicolas und die anderen Männer hingebracht hatte. Man hatte sie bereits während des Fußmarsches getrennt. Sie ist eine von euch. Eine Verräterin … Noch immer konnte sie seine Stimme deutlich bei sich hören.
Es war dunkel in dem Verschlag. Nur durch die Ritzen drang etwas Tageslicht und die kalte Luft von draußen. Sie fror. Ihre Hand griff nach dem Anhänger um ihren Hals. Sie dachte an ihre Großmutter, und der Gedanke half ihr, nicht in Tränen auszu brechen.
»Was machen sie mit uns?«, fragte sie schließlich ins Halbdunkel hinein.
Eine Weile reagierte niemand. Doch schließlich wandte eine der beiden Frauen Madeleine das Gesicht zu. »Wir sollen abschwören«, erklärte sie müde.
Abschwören? Madeleine schwieg, denn das Wort brachte ihr zu Bewusstsein, in welcher Situation sie sich befand. Man hatte sie hierhergebracht, weil man sie für eine Protestantin hielt. Sollte sie sich als Katholikin zu erkennen geben? Sie dachte an die Münze von Lebrun, die sich eingenäht in ihrem Rocksaum befand. Doch bei dem Gedanken, davon Gebrauch zu machen, fühlte sie sich schlecht und voller Schuldgefühle – als würden Nicolas’ Worte damit zur Wahrheit werden. Eine Verräterin – nichts anderes war sie tatsächlich. Dann aber tauchte das Bild des Herzogs d’Aumale vor ihren Augen auf. Ihr Herz pochte vor Furcht. Er konnte nicht ahnen, dass sie hier war, versuchte sie sich zu beruhigen. Was aber, wenn er sie zufällig sah oder sie ihm als protestantische Gefangene sogar vorgeführt wurde? Sie musste hier weg! Egal wie, dachte sie angsterfüllt.
Irgendwann übermannte sie schließlich doch die Erschöpfung, und sie fiel in einen unruhigen Schlaf.
Am nächsten Morgen wurde sie davon geweckt, wie die Wachen die Tür öffneten. Man löste ihre Handschellen von der Kette und befahl ihr mitzukommen.
Sie wurde in ein karg eingerichtetes Zelt gebracht, in dem der Offizier saß, der auch bei dem Übergriff auf ihr Lager dabei gewesen war. Sein Blick verriet ihr, dass sie fürchterlich aussehen musste.
»Setzt Euch!«, sagte er unerwartet freundlich und deutete auf einen Schemel.
»Danke!« Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und versuchte, zumindest eine aufrechte Haltung einzunehmen.
»Euer Name?«
»Madeleine … Madeleine Legrand«, log sie. Der Familienname des Apothekers war der erste, der ihr eingefallen war, da sie ihren eigenen unmöglich sagen konnte. Sie hob den Kopf. »Ich bin keine Protestantin, sondern Katholikin wie Ihr«, sagte sie dann.
Der Offizier zog die Brauen seines kantigen Gesichts hoch. »Ihr seid mit einer Gruppe bewaffneter protestantischer Männer unterwegs gewesen!«
»Ich weiß. Es ist … kompliziert! Es war meine Aufgabe, bei den Protestanten zu sein und sie auszuhorchen«, erklärte sie.
»Wollt Ihr behaupten, dass Ihr eine Spionin seid – so wie dieser Protestant behauptet hat?« Es war offensichtlich, dass er ihr nicht glaubte.
»Ja!«, entgegnete sie. »Ich kann es beweisen. In meinem Rocksaum ist etwas eingenäht.« Madeleine deutete mit ihren Handschellen nach unten.
Der Offizier musterte sie. Schließlich zog er einen Dolch unter seinem halblangen Umhang hervor. »Tatsächlich? Ihr erlaubt?«
Ehe sie sichs versah, hatte er nach ihrem Saum gegriffen, und man hörte ein reißendes Geräusch. Madeleine konnte sehen, wie der Offizier den Stoff abtastete, bis er auf etwas Hartes stieß. Er holte die Münze mit dem weißen Kreuz hervor. Ungläubig starrte er darauf, als er auf der Rückseite die Prägung des königlichen Siegels sah.
»Versteht Ihr? Ich konnte mich nicht früher zu erkennen geben. Es wäre zu gefährlich gewesen«, sagte Madeleine eindringlich und erzählte ihm, dass sie für den Geheimdienst der Königinmutter arbeiten würde und auf dem schnellsten Wege zum Hof müsste, da sie wichtige Informationen habe.
Der Offizier schien ihr nicht nur zu glauben, sondern war beeindruckt. »Ihr müsst eine sehr mutige Frau sein, Euch in die Hände dieser Ketzer zu wagen … Der Herzog d’Aumale hätte Euch sicherlich gerne kennengelernt, aber er befindet sich bedauerlicherweise mit einem Teil der Truppen weiter südöstlich, um sich dort den deutschen Söldnern entgegenzustellen.«
Madeleine hatte Mühe, ihre Erleichterung zu
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