Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
zu Zeit stellte er ihr eine Frage.
»In der Nacht, als ich dir meine Visionen gestanden habe, wollte ich endlich auch alles andere beichten, doch dann hast du von dem Verräter erzählt, und ich bekam Angst. Ich habe es einfach nicht mehr gewagt …«, schloss sie schließlich.
In dem silbrigen Licht des Mondes konnte sie sein Gesicht erkennen und nahm wahr, dass die Härte etwas aus seinen Zügen gewichen war.
»Ich wusste, dass du bei den Guise schon früher entkommen warst«, sagte Nicolas zu ihrer Überraschung. »Nach deiner Entführung habe ich Nachforschungen anstellen lassen. Ich habe immer gehofft, dass du mir von allein die Wahrheit sagen würdest. Es war ein Fehler, dass du das nicht getan hast!« Sie verspürte einen Stich, als sie seine Worte vernahm. Was hatte sie erwartet? Nichts würde jemals wieder so sein, wie es einmal war. Schweigend gingen sie zurück zum Lager.
123
S pät in der Nacht wurde sie von Geräuschen geweckt. Im ersten Augenblick glaubte Madeleine zu träumen und wollte sich unter der Decke verschlafen zur anderen Seite wenden, doch dann waren die Stimmen und Rufe nicht länger zu überhören. Die Umrisse fremder Gestalten waren im Lager zu erkennen – sie waren bewaffnet und in der Überzahl. Es waren bestimmt zwanzig, dreißig Mann, die von allen Seiten zwischen den Bäumen auf sie zukamen.
Sie waren verraten worden – das war der erste Gedanke, der Madeleine durch den Kopf schoss, als sie hochfuhr und vor ihr der Stahl eines Degens aufblitzte. Das pockennarbige Gesicht eines Soldaten tauchte hinter der Waffe auf.
Er stieß sie an der Schulter zurück auf den Boden.
»Protestantenhure!«, fuhr er sie an und schlug sie ins Gesicht. Sie sah den Hass in den Augen des Soldaten aufblitzen, während sie gleichzeitig das weiße Kreuz auf seinem Wams wahrnahm. Um sich herum hörte sie die Schreie der anderen. Die Spitze des Degens drückte sich gegen ihre Kehle. Sollte das das Ende sein? Zitternd vor Angst schloss sie die Augen.
»Nein!«, ertönte der Befehl einer gebieterischen Stimme. Ein katholischer Offizier war hinter dem Soldaten aufgetaucht und hatte dessen Hand mit einem Ruck zur Seite gezogen. »Ich will sie lebend. Sie und die anderen«, sagte er kalt und musterte sie abschätzig, wie sie dort zu seinen Füßen auf dem Boden lag.
Der Soldat band ihr die Hände mit einem Strick grob auf dem Rücken zusammen und riss sie auf die Beine. Unsanft stieß man sie vorwärts, und sie sah voller Entsetzen im Halbdunklen das Blut um sie herum. Mehrere Hugenotten lagen leblos auf dem Boden. Eine entsetzliche Angst ergriff sie, dass auch er getötet worden sein könnte. Alles in ihr zog sich zusammen. Während man sie weiterzerrte, schaute sie sich suchend um, und schließlich sah sie ihn. Nicolas lebte. Sein Hemd war eingerissen, und Blut klebte an seiner Wange und seinem Arm. Er hatte versucht zu kämpfen – ohne jede Chance gegen die Übermacht. Zwei Soldaten waren dabei, ihn zu fesseln. Ein dritter stand vor ihm.
Vor Erleichterung wollte sie seinen Namen ausrufen, ihm sagen, dass sie ihn liebte, doch dann begegnete ihr sein Blick. Die Kälte, die ihr daraus entgegenschlug, ließ sie zusammenzucken.
»Ihr braucht sie nicht zu fesseln«, sagte er mit verächtlicher Miene zu dem katholischen Offizier. »Sie ist eine von euch. Eine Verräterin, die sich bei uns eingenistet hat.«
Fassungslos blickte Madeleine ihn an.
Der Offizier musterte sie. Dann stieß man sie auch schon weiter.
124
M an brachte sie zwei Tage Fußmarsch entfernt zu einem Lager, das sich unweit von Brève befand. Sie zitterte, als ihr klar wurde, dass es wahrscheinlich zu dem Heer des Herzogs d’Aumale gehörte. Die Soldaten betrachteten sie voller Gier, als sie zwischen den Zelten an ihnen vorbeigeführt wurde.
Jemand spuckte ihr hasserfüllt ins Gesicht.
»Hure! Dir werden wir es noch richtig besorgen …«
»Ihr werdet alle brennen!«, sagte ein anderer.
Madeleine schauderte und war fast dankbar, als man sie in einen zusammengezimmerten Holzverschlag brachte, der anscheinend eigens für Gefangene gebaut worden war. Die Umrisse zweier anderer Frauen waren darin zu erkennen – ihre Hände waren in eisernen Handschellen an einer Kette festgemacht, deren Ende im Boden verankert war. Apathisch saßen sie auf dem Boden vor der Wand.
Die Wache nahm Madeleine die Stricke ab und legte ihr ebenfalls die eisernen Ringe an. Dann schloss sich die Tür, und von draußen wurde ein Riegel
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