Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
Wochen ein Fieber ans Bett gefesselt, sie hätte Aumale persönlich wissen lassen, wie schmachvoll sie seine militärische Leistung fand. Dank seiner befand sich ein Heer von sechzehntausend Söldnern auf dem Weg zum Admiral, und es würde schwer sein, nun erneut gegen die Protestanten anzukommen.
Die Medici schüttelte resigniert den Kopf, während sie unruhig einige Schritte hin und her lief. Dieser Krieg würde genauso enden wie die vorherigen – keiner der Parteien würde es gelingen, einen dauerhaften Sieg davonzutragen! Das Land würde nur tiefer und tiefer in den Ruin getrieben werden, während immer mehr ausländische Söldner ins Land strömten. Deutsche, Spanier, Niederländer und Italiener standen sich auf den Schlachtfeldern Frankreichs gegenüber. Zigtausende waren es inzwischen, und sie würden mit ihren Plünderungen und Brandschatzungen eine Spur der Verwüstung im Land hinterlassen – noch lange, nachdem dieser Krieg ausgestanden war. Es war ein Albtraum!
Ihre Gedanken kehrten zu Jeanne d’Albret zurück. Sie ahnte, wie gefährlich die majestätische Erscheinung dieser Frau werden konnte, die nicht nur eine führende Protestantin, sondern auch die Mutter von Henri de Navarre war. Im Verbund mit Coligny war sie eine nicht zu unterschätzende Gefahr.
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M adeleine sah mit ungläubiger Miene auf den Teller, auf dem ein köstlich duftender Hähnchenschenkel, Käse, Früchte und etwas Brot lagen. Dann schaltete sich jedoch ihr Verstand ein. Etwas stimmte nicht – und zwar ganz und gar nicht!
Nach vier Tagen Reise waren sie an diesem Nachmittag in Paris angekommen, und man hatte sie in das Innere eines prunkvollen Gebäudes gebracht, bei dem es sich um das Palais de Guise handelte. Zu ihrer Überraschung war sie dort jedoch weder dem Herzog d’Aumale vorgeführt worden, noch hatte man sie, wie sie erwartete, in ein Verlies gesperrt. Im Gegenteil – man nahm ihr stattdessen die Handfesseln ab und führte sie in einen Raum, in dem ein Zuber mit heißem Wasser für sie bereitstand und eine Magd ihr half, sich zu waschen und ein sauberes Kleid anzuziehen. Anschließend hatte man ihr diesen Teller mit einer Mahlzeit gebracht.
Noch immer stand eine Wache vor ihrer Tür, die man mit einem schweren Eisenriegel verschlossen hatte, und das Fenster war vergittert, doch man schien mit einem Mal bemüht, sie gut zu behandeln. Madeleine begriff nicht, warum.
Voller Argwohn starrte sie auf den Teller, doch beim Anblick des Hähnchenschenkels siegte schließlich ihr Hunger. Sie hatte seit Tagen nichts Richtiges gegessen. Gierig machte sie sich über das Essen her und trank von dem Wasser und sogar einen Schluck von dem Wein. Draußen begann es bereits dunkel zu werden. Als sie die Mahlzeit beendet hatte, trat sie ans Fenster. Sie konnte durch die Gitterstäbe erkennen, dass sie sich im dritten Stock unter dem Dach des Palais befand. Madeleine sah, dass in dem Hof einige Sänften und Reiter angekommen waren: Edelleute und Damen, die von Dienern begleitet wurden und das Haus betraten. Anscheinend wurde heute Abend ein Fest gegeben. Sie beobachtete, wie aus einer der Sänften eine junge Frau stieg. Sie war schön, mit ungewöhnlich anmutigen Gesichtszügen. Zügen, die Madeleine noch gut in Erinnerung waren. Ein Schreck durchfuhr sie, als sie die Frau erkannte – sie war es gewesen, die Nicolas im Hof des Schlosses von Brèves umarmt hatte! Was hatte sie hier im Palais der Guise zu suchen?
Madeleine wich entsetzt vom Fenster zurück. In welcher Verbindung stand Nicolas mit den Guise, wenn diese Frau hier auftauchte? Sollte sich ihr schlimmster Verdacht bewahrheiten? War er etwa der Verräter, von dem er selbst erzählt hatte? Konnte er so niederträchtig sein? Sie hatte plötzlich das Gefühl, dass sich alles um sie drehte. Ihre Entführung in Châtillon … Nicolas war es gewesen, der sie gebeten hatte, am Abend auf den Wehrturm zu kommen, wo die Schergen der Guise sie erwartet hatten, fiel ihr mit einem Mal ein. Und nach ihrer Rückkehr war er auch der Einzige gewesen, der ihre Geschichte, wie sie den Guise entkommen war, nicht geglaubt hatte. Warum? Weil er von ihnen wusste, dass sie befreit worden war? Ihr wurde schlecht, als ihr auf einmal so unendlich viele Dinge durch den Kopf schossen, die in einem völlig neuen Zusammenhang zu stehen schienen. Wie betäubt sank sie auf einen Schemel, als sie hörte, wie hinter ihr der schwere Riegel der Tür aufgeschoben wurde. Die Wache tauchte auf der Schwelle auf.
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