Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
dir mit der Antwort auf deinen Brief, den du mir nach Paris geschickt hast, helfen?«, fragte sie.
Er nickte. »Du musst mir noch einen Gefallen tun«, bat er dann.
126
D ie plötzliche Helligkeit ließ sie zusammenzucken, und sie legte schützend ihren Handrücken vor die Augen, weil sie sich geblendet fühlte.
»Steh auf!«, befahl die Wache, die die Tür geöffnet hatte.
Madeleine starrte den Mann benommen an. Fast zwei Tage hatte man sie in das Verlies gesperrt. Ihr Gesicht schmerzte noch immer von den Schlägen, die Henri de Guise auf sie hatte niederfahren lassen, nachdem er erkannt hatte, wer sie war.
Was würde jetzt geschehen? Würde sie dem Herzog d’Aumale vorgeführt werden? Ihr wurde übel vor Angst bei dem Gedanken. Sie hatte den Gefallen, den er daran gefunden hatte, sie zu quälen, nicht vergessen.
Mit klopfendem Herzen folgte sie der Wache. Sie stiegen eine Treppe hoch, die in die Haupthalle des Schlosses führte. Zwei Soldaten standen dort.
»Hier ist sie!«, sagte die Wache.
Die Soldaten ergriffen sie, und sie wurde nach draußen zu einem Fuhrwagen gebracht. Er war Bestandteil eines Konvois, wie sie zu ihrer Überraschung erkannte.
»Los, rauf mit dir!«, sagte der Soldat neben ihr und befestigte ihre Handschellen mit einer Kette an den seitlichen Verstrebungen des Wagens. Dann nahm er ihr gegenüber Platz.
»Wohin fahren wir?«, fragte sie.
Doch er gab ihr keine Antwort, sondern schaute mit ausdrucksloser Miene an ihr vorbei.
Madeleine gab sich keiner Hoffnung hin. Vermutlich brachte man sie in ein entferntes Lager der Truppen, dort, wo sich Aumale gerade aufhielt – oder in irgendein Gefängnis. Ihr Blick schweifte in die Ferne. Während der zwei Tage im Verlies hatte sie trotz ihrer Ängste unentwegt an Nicolas gedacht. Das Bild, wie die Frau ihn umarmte, hatte sich in ihr Gedächtnis gebrannt, doch gleich zeitig hatte sie sich immer wieder gefragt, warum man ihn nur freigelassen hatte. Die Antwort darauf war schrecklich. Konnte sie sich so in ihm getäuscht haben? Sie konnte den Klang seiner rauen Stimme hören und sehnte sich nach seinen Berührungen. Es erschreckte sie. Wie konnte sie nach allem, was sie gesehen hatte, noch immer so empfinden?
Sie schloss die Augen. Es würde ohnehin alles keine Rolle mehr spielen. Sie war sich sicher, dass sie den Guise nicht noch einmal entkommen würde.
127
I hre Majestät, die Königinmutter, verzog ungehalten das Gesicht, als sie aus dem Fenster des Louvre sah.
Sie fragte sich wahrhaftig, ob ihre Kinder alle vom Schwachsinn befallen waren. Vielleicht hatte sich das Mittel, das sie zur Förderung ihrer Fruchtbarkeit genommen hatte, doch auf ihren Geisteszustand ausgewirkt? Anders war ihr Verhalten nicht zu erklären. Noch immer konnte die Medici nicht fassen, was Henri getan hatte, dass er zugelassen hatte, die Leiche des Prinzen de Condé mit herabhängenden Armen und Beinen auf einen Esel binden zu lassen. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, welch flammende Rede Jeanne d’Albret, die Königin von Navarre, danach vor den Hugenotten im Feld gehalten hatte! Die Spione des Königs hatten es sich nicht nehmen lassen, ihr das Ereignis in allen Details zu schildern.
Wie konnte ihr Sohn die Ehre eines Toten so beschmutzen – eines Cousins des Königs! Ausgerechnet Henri, ihr Lieblingssohn, dachte sie bitter. Er zeigte Anstalten, dieselben jähzornigen Charakterzüge wie sein Bruder Charles zu entwickeln. Eine leise Angst beschlich sie, denn sie entsann sich mit einem Mal wieder der Prophezeiung von Nostradamus, dass alle ihre drei Söhne als Könige sterben würden und ihnen eines Tages ein Prinz aus dem Geschlecht der Bourbonen folgen würde – Henri de Navarre. Lächerlich war ihr diese Weissagung damals erschienen. Sie unterdrückte ein Seufzen. Doch ihr Erstgeborener, François, war bereits vor Jahren gestorben, und um Charles und Henri war sie in ständiger Sorge. Es mangelte ihnen beiden an Charakter, und man konnte sich nicht des Eindrucks erwehren, dass sie alles daransetzten, Frankreich ins Verderben zu führen. Henri, indem er sich den unstillbaren Hass der Hugenotten zuzog, und Charles, der König, indem er sich in beängstigender Weise dem Einfluss des Kardinals de Lorraine ergab.
Das Gesicht der Medici verfinsterte sich, als sie an den Kardi nal dachte, dessen Bruder, dem Herzog d’Aumale, es nicht einmal gelungen war, die Söldnertruppen des Herzogs von Zweibrücken aufzuhalten. Welche Unfähigkeit! Hätte sie nicht über
Weitere Kostenlose Bücher