Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
verbergen. Einen Moment lang hatte ihr Herzschlag ausgesetzt, als sie den Namen Aumale hörte.
»Ich werde Euch zum Schloss bringen lassen«, fuhr der Offizier fort. »Dort wird man alles für Eure Reise zum Hof in die Wege leiten. Unsere Kuriere sind regelmäßig auf dem Weg dorthin.«
Eine gute Stunde später – nachdem man ihr die Gelegenheit gegeben hatte, sich etwas zu waschen, ihr Haar zu kämmen und ihr der Offizier einen sauberen Umhang mit Kapuze hatte besorgen lassen – befand sie sich mit ihm und zwei Soldaten auf dem Weg zum Schloss.
Der Hof befände sich zurzeit wieder in Paris, erklärte ihr der Offizier, der neben ihr auf dem Karren saß. Die Königinmutter sei im März erkrankt und hätte sich vor ihrer Rückkehr lange Zeit in Metz befunden.
»Was hatte sie?«, erkundigte sich Madeleine.
»Ein schweres Fieber, wie man behauptet.«
Während sie ihm zuhörte, betrachtete sie die Soldaten, die überall herumliefen. Nach ihren ersten Bedenken war sie inzwischen dankbar für das Angebot des Offiziers, mit einem der Kuriere nach Paris zu reisen. Allein hätte sie es niemals geschafft, von hier wegzukommen.
Die Umrisse eines Schlosses mit mehreren Türmen tauchten vor ihnen auf. Der Wagen fuhr durch das Tor in den Vorhof ein und hielt neben einem der Seiteneingänge.
Madeleine stieg ab und folgte dem Offizier. Auf dem Weg zur Tür nahm sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung am Hauptportal wahr. Zwei Männer waren dort nach draußen getreten.
Madeleine erschrak. Das konnte nicht sein! Sie musste sich täuschen … Doch es bestand kein Zweifel – der Mann, der neben einem hochrangigen Militärobersten aus der Tür getreten war – es war Nicolas! Er trug noch immer sein blutbeflecktes eingerissenes Hemd, aber er schien frei zu sein. Ungläubig beobachtete sie, wie in diesem Moment eine junge, elegant gekleidete Frau auf Nicolas zugelaufen kam und ihn in die Arme schloss.
Madeleine hatte das Gefühl, jemand würde ihr ein Messer in den Leib stoßen. Eine glühende Eifersucht durchzog sie, während sie die beiden fassungslos anstarrte. Wer war die Frau? Madeleine war dankbar, dass die Kapuze ihr Gesicht verhüllte, und wandte den Kopf ab.
Mit zugeschnürter Kehle folgte sie dem Offizier ins Schloss. Er geleitete sie in einen Raum, dessen Wände mehrere Gobelins zierten. Im Kamin brannte ein prasselndes Feuer. Der Offizier bat sie, einen Augenblick zu warten.
Sie nickte. Benommen trat sie ans Fenster und versuchte zu begreifen, was sie dort eben im Hof gesehen hatte. Noch immer hatte sie vor Augen, wie die fremde Frau Nicolas so innig umarmt hatte. Sie war ausgesprochen attraktiv gewesen. Selbst von Weitem hatte Madeleine das sehen können. Warum hatte man Nicolas freigelassen? Was hatte das zu bedeuten? Ein Strudel von quälenden Gedanken zog durch ihren Kopf, und sie hörte die Schritte der beiden Männer hinter sich erst, als sie schon über die Schwelle getreten waren.
»Mademoiselle? Mein Onkel konnte Euch leider nicht begrüßen, aber zumindest ich wollte Euch meine Hochachtung für Eu ren Mut und Einsatz aussprechen«, ertönte eine Stimme hinter ihr.
Madeleine drehte sich um und sah zu dem gut aussehenden blonden jungen Mann, der in Begleitung des Offiziers den Raum betreten hatte. Er war vielleicht neunzehn oder zwanzig Jahre alt und trug die Kleidung eines hochrangigen Adligen. Als er ihr Gesicht erblickte, erlosch sein Lächeln schlagartig. Ein erst ungläubiger und dann von so tiefem Hass erfüllter Ausdruck verzerrte seine Züge, dass Madeleine zusammenzuckte. Sie wich entsetzt zurück. Vor ihr stand der junge Henri de Guise!
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N icolas hatte sich wortlos das frische Hemd übergezogen. Er drehte sich zu der Frau, die hinter ihm auf der Schwelle stand. »Wenn du glaubst, dass ich jetzt dankbar bin, muss ich dich leider enttäuschen!«, sagte er kühl.
Sie lächelte leicht, als sie seinen aufgebrachten Unterton vernahm. Ein resignierter Zug zeigte sich dabei in ihrem anmutig geschnittenen Gesicht. »Das habe ich auch nicht erwartet, Nicolas.«
Sie lehnte sich in ihrem seidenen Kleid gegen den Türrahmen. »Du kannst froh sein, dass Jean zufällig von deiner Gefangennahme erfahren hat und ich hier war.«
Er schwieg. »Ich weiß«, sagte er dann. Er bemerkte ihren verletzten Ausdruck und zog sie in seine Arme.
Einen Moment lang ruhte ihr Kopf an seiner Brust. »Es tut mir leid. Glaub mir, ich wünschte, die Dinge wären anders gekommen!« Seine Stimme klang belegt.
»Konnte ich
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