Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
Informationen von ihm an den Geheimdienst weitergegeben hatte.
Madeleine bemühte sich, so zu tun, als würde sie die Frage nicht richtig verstehen. »Nein, ich habe keine Ahnung. Es war ein Überfall auf seinen Laden, hat man erzählt. Es hatte nichts mit mir oder meinen Briefen zu tun! Er hat sie ohnehin nur weitergeleitet«, sagte sie.
Sie bemerkte, dass Charles de Lorraine und der Botschafter einen schnellen Blick wechselten. Kurz darauf beendeten die beiden Männer das Verhör, und die Wache brachte Madeleine in ihr Zimmer zurück.
Musik, Stimmengewirr und Gelächter tönten aus dem unteren Stockwerk nach oben. Madeleine dachte mit zugeschnürter Kehle an den Blick des Kardinals, als dieser sie verabschiedet hatte. Die Kälte darin ließ sie ahnen, dass ihr Leben keinen einzigen Écu mehr wert war, jetzt, da die Männer glaubten, alles zu wissen. Sie betrachtete das vergitterte Fenster und den Riegel an der Tür. Wie sollte sie von hier entkommen? Es gab nur eine einzige winzige Chance, wie ihr die Flucht gelingen konnte. Sie schickte ein inbrünstiges Stoßgebet zum Himmel, dass ihre Bitte erhört werden würde.
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E s war eine Frau, die dort an den Gitterstäben der Tore stand und an ihnen rüttelte. Ihre Stimme klang verzweifelt, und er konnte von Weitem mehrmals das Wort Medici und Bitte! hören, doch die Wachen verwehrten ihr stur den Zutritt. Was nicht weiter verwunderlich war, denn der königliche Palast des Louvre war leer. Ambroise Paré warf einen kurzen Blick zu der Frau, als er etwas entfernt aus einem Nebenausgang auf die Straße trat. Sie wusste offensichtlich nicht, dass sich Ihre Majestäten, der König und seine Mutter, nach ihrem kurzen Aufenthalt in Paris schon gestern wieder auf den Weg nach Bourges gemacht hatten. Seitdem die Königinmutter von ihrem Fieber genesen war, barst sie trotz ihrer fünfzig Jahre von einem Tatendrang, der einen schwindlig werden ließ. Wäre sie ein Mann gewesen, sie wäre ohne Frage ein brillanter General geworden, der schon längst den Sieg errungen hätte. So aber blieb ihr nichts anderes, als die Kämpfenden durch die Nähe ihrer Anwesenheit moralisch zu unterstützen.
Als königlicher Chirurg würde Paré Ihren Majestäten schon morgen folgen. Er lief auf der Straße weiter und näherte sich der Frau, die vor den Toren noch immer völlig aufgelöst auf die Wachen einsprach. Er hatte vermutet, dass es sich um eine Bittstellerin handelte, doch ihre Gesten und der Tonfall ihrer Stimme passten nicht dazu. Etwas so Eindringliches lag darin, dass der Chirurg neugierig den Kopf zu ihr wandte, als er an ihr vorbeiging. Er stutzte. Doch es bestand kein Zweifel. Wie zur Bestätigung wandte sie ihm in diesem Moment den Kopf zu. Ihr verzweifeltes Gesicht blickte ihn ungläubig an.
»Monsieur Paré? O mein Gott, Ihr seid es wirklich!« Sie ließ die Gitterstäbe los und stürzte wie von Sinnen auf ihn zu. »Könnt Ihr nicht etwas tun, bitte! Ich muss zu Ihrer Majestät, der Königinmutter, oder zu Monsieur Lebrun, aber die Wachen – sie wollen mich nicht hineinlassen!«
»Mein Gott, Mademoiselle Kolb!«, entfuhr es ihm überrascht. Tränen liefen über ihr Gesicht, und er bemerkte, dass sie sich mehrmals umsah, als hätte sie Angst, jemand würde sie verfolgen.
»Bitte, Ihr müsst mir helfen!«, flehte sie.
»Die Königinmutter ist nicht hier! Sie ist gestern nach Bourges abgereist«, erklärte er.
»Was?« Sie war blass geworden – trotz des spärlichen Lichts konnte er das in der Dunkelheit erkennen. »Ich muss unbedingt mit ihr sprechen«, sagte sie dann. Die Verzweiflung war in ihre Stimme zurückgekehrt und noch etwas anderes – Angst. Parés Blick blieb an ihrem Gesicht hängen – an einem rundlichen Abdruck an ihrer Schläfe. Ein blauer Fleck, der schon fast verheilt war, seinen geschulten Augen jedoch nicht entging.
»Kommt!«, sagte er und zog sie mit sich.
Madeleine erzählte ihm alles – von ihrer Rückkehr zu den Hugenotten, der Reise nach Zweibrücken und wie sie auf dem Weg nach La Rochelle von einer Truppeneinheit des Herzogs d’Aumale festgenommen wurde und fast entkommen wäre, wenn sie nicht auf einmal Henri de Guise gegenübergestanden hätte. Ambroise Paré hörte ihr schweigend zu. Er hatte sie nicht weit entfernt zu einem Haus gebracht, einem schmalen zweistöckigen Gebäude, das ihm gehörte und in das er sich zurückzog, wenn er in Ruhe seine medizinischen Beobachtungen zu Papier brachte.
»Es grenzt an ein Wunder, dass Ihr noch
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