Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
am Leben seid«, sagte er zwischendurch. Ein ungläubiges Lächeln huschte über das Gesicht des Chirurgen, als sie ihm schilderte, wie sie in ihrer aussichtslosen Situation Hilfe von einem Zwerg bekommen hatte.
»Ich kannte Rémi – er war bei einer Gauklertruppe, mit der ich damals nach Orléans gereist bin. Er hat mir schon einmal geholfen …« Sie schwieg und sah in Gedanken seine kleine Gestalt vor sich, die plötzlich im Palais de Guise auf der Schwelle ihrer Tür stand. Er hatte der Wache durch einen Diener einen Krug Wein bringen lassen, in den er ein Schlafmittel des Herzogs gegeben hatte, doch fast wäre ihre Flucht daran gescheitert, dass Rémi den schweren Riegel der Tür nicht aufbekommen hatte. Er hatte sich erst einen Stuhl holen müssen … Über die verschachtelten Flure und Gänge hatte der Zwerg sie zu einem Dienstboteneingang geführt, durch den sie auf die Straße gelangt war. Von dort war sie zum Louvre geflohen.
Paré blickte sie mit ernster Miene an, als sie geendet hatte. »Wenn ich Euch recht verstehe, dann seid Ihr auf der Flucht vor den Guise, könnt aber auch nicht mehr zu den Hugenotten zurück, weil man Euch dort für eine Verräterin hält.«
Madeleine nickte. »Ja, genau so ist es!«
Der Chirurg seufzte. »Nun, dann ist die Königinmutter tatsächlich die Einzige, die Euch Schutz gewähren kann. Aber leider ist sie gerade erst nach Bourges abgereist, um in der Nähe ihrer Truppen zu sein. Es kann Monate dauern, bis sie zurückkehrt.«
Madeleine blickte ihn betroffen an. Paré legte seine Hand auf ihren Arm. »Ihr müsst einige Zeit untertauchen, Mademoiselle. Eine andere Wahl bleibt Euch nicht!«, sagte er entschieden. »Ich selbst reise morgen leider ebenfalls ab – in diesem Haus könnt Ihr deshalb nicht bleiben. Es würde auffallen, wenn jemand während meiner Abwesenheit hier wäre. Aber es gibt einen guten Freund, zu dem ich Euch bringen kann – Monsieur Nicot. Er lebt im Faubourg Saint-Marcel. Dort wird Euch niemand vermuten, und Ihr werdet in Sicherheit sein.«
130
W ie sich herausstellte, war Jean Nicot ebenfalls Chirurg. Die beiden Männer kannten sich von früher aus ihrer gemeinsamen Zeit und Arbeit im Hôtel de Dieu, erklärte ihr Paré, der vor Jahren einem von Nicots Söhnen durch eine Amputation das Leben gerettet hatte. Nicot lebte in einem windschiefen kleinen Häuschen, das eingereiht zwischen Läden und Betrieben von Färbern, Schuhmachern und Gerbern in Saint-Marcel lag. In einer der Gassen, in der von den umliegenden Gewerben oft ein schlechter Geruch hing, betrieb er seine Praxis als Chirurg und Barbier.
Nicot hörte schweigend zu, als Paré ihm kurz die Situation schilderte. »Euer Wort reicht«, sagte er zu seinem Freund, bevor er sich zu Madeleine wandte. »Hier ist genug Platz. Ihr könnt gerne bleiben, solange Ihr wollt, Mademoiselle.« Nicot war kein Mann von vielen Worten, doch er strahlte eine Ruhe und Kraft aus, die Madeleine beeindruckten. Seine beiden Söhne waren längst aus dem Haus, und eine rundliche, ältere Frau namens Françoise-Marie führte ihm seit dem Tode seiner Gemahlin den Haushalt. Madeleine wurde ihr als Nichte vorgestellt, die vor den Kriegswirren im Westen nach Paris geflohen war.
Anfangs fiel es ihr schwer, sich an das neue Leben zu gewöhnen. Sie half in der Praxis von Monsieur Nicot und im Haushalt, aber es gelang ihr nicht, Abstand zu den furchtbaren Erlebnissen zu bekommen, die hinter ihr lagen. Etwas in ihr fühlte sich gebrochen und leer an. Doch mit der Zeit merkte sie, dass ihr die Routine des Alltags guttat. Sie versuchte entschlossen, die Gedanken an die Vergangenheit und alles, was geschehen war, aus ihrem Kopf zu verbannen – vor allem das Bild von Nicolas.
Die Ereignisse des Krieges drangen indessen auch nach Paris. Der kranke und geschwächte Herzog von Zweibrücken hatte es schließlich doch geschafft, die Armee bis in den Westen zu führen, doch kurz bevor er den Admiral treffen konnte, war er gestorben. Auch Colignys Bruder François war einem Fieber erlegen. Betroffen vernahm Madeleine diese Neuigkeiten.
Die Hugenotten hatten bei La Roche-l’Abeille gesiegt, erlitten dafür aber im Herbst eine bittere Niederlage bei der Schlacht von Moncontour. Paris jubelte über die hohen Verluste der Protestanten.
Schon im September war Coligny vom Parlament zum Tode verurteilt worden. Eine Strohpuppe war an seiner statt unter begeisterten Rufen öffentlich gehängt worden, und man hatte mehrere Tausend
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