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Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Titel: Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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»Folgt mir!«, befahl er barsch.
    Mit zittrigen Knien gehorchte Madeleine. Er ergriff ihren Arm und hielt sich so dicht neben ihr, dass an Flucht nicht zu denken war – abgesehen davon, dass sie – selbst wenn sie die Chance gehabt hätte – in diesem Labyrinth von Fluren und Gängen wahrscheinlich nicht einmal den Weg nach draußen gefunden hätte. Während ihr Kopf noch immer das Unfassbare zu begreifen versuchte, traten sie in ein Gemach, dessen gerundeter Raum ihr verriet, dass sie sich in einem der Türme des Palais befinden mussten.
    Als Madeleine die Gestalt in dem purpurroten Gewand erkannte, fuhr sie zusammen.
    »Tretet näher, Mademoiselle!«, sagte der Kardinal mit tiefer, sonorer Stimme. Nichts an ihm ließ erkennen, mit welcher Kälte er einst ihren misshandelten Körper betrachtet hatte und darüber sprach, sie der Inquisition zu übergeben.
    »Nun, ich muss zugeben, Mademoiselle, dass Ihr einen erstaunlichen Überlebenswillen zeigt«, sagte er. »Zu Eurem Glück hege ich im Gegensatz zu meinem Bruder keinen persönlichen Hass gegen Euch. Die Kämpfe mit den Hugenotten lassen ihm bedauerlicherweise keine Zeit, sich persönlich um diese Angelegenheit zu kümmern.« Charles de Lorraine ließ sich mit einer eleganten Bewegung auf einem Lehnstuhl nieder.
    »Ich hoffe, man hat Euch hier gut behandelt?«, erkundigte er sich.
    Sie nickte. Seine gespielte Freundlichkeit hatte etwas Unheimliches und beinah Bösartiges, denn natürlich war ihm bewusst, welche Angst sie beherrschte, während sie hier vor ihm stand.
    »Gut.« Er nickte. »Ich möchte Euch einige Fragen stellen – ich und der spanische Botschafter. Solltet Ihr Euch kooperativ zeigen, werde ich erwägen, ein gutes Wort bei meinem Bruder für Euch einzulegen. Haben wir uns verstanden?«
    »Ja«, sagte sie und fragte sich, warum der spanische Botschafter um Gottes willen irgendwelche Fragen an sie haben sollte. Sie bemühte sich zu begreifen, was hier vor sich ging. Weshalb behandelte der Kardinal sie so entgegenkommend und hatte sie nicht schon längst töten lassen? Es musste etwas geben, das man von ihr wollte!
    Charles de Lorraine hatte sich währenddessen wieder aus seinem Stuhl erhoben. Er öffnete die Tür und sagte etwas zu einem Diener. Nur kurz darauf betrat ein Mann den Raum. Er hielt sich ungewöhnlich aufrecht, ja fast steif und trug ein schwarzes seidenes Wams und geschlitzte schwarze Hosen, die sich in einem deutlichen Kontrast von seinen hellen Seidenstrümpfen absetzten. In seiner Begleitung befand sich ein kostümierter Zwerg, der seinen Umhang trug. Madeleines Blick blieb ungläubig an der kleinen Gestalt hängen, doch dann wandte sie sofort wieder den Kopf ab, um sich nichts anmerken zu lassen.
    »Setz dich!«, sagte der Kardinal, Madeleine plötzlich duzend, und wies auf einen Schemel.
    »Wir wissen, dass du für die Medici arbeitest, und möchten wissen, mit welchem Auftrag man dich zu den Hugenotten geschickt hat!«, erklärte Charles de Lorraine.
    Madeleine schluckte. Woher wussten sie das? Dann fiel ihr die Münze ein, die sie dem Offizier gegeben hatte. Sie selbst hatte sich verraten! »Ich sollte sie über die Pläne der Hugenotten auf dem Laufenden halten!«, antwortete sie schließlich.
    »Über welche Pläne?«, fragte der Kardinal scharf.
    Madeleine schaute ihn verunsichert an. »Über keine bestimmten. Mein Auftrag war es, über alles zu berichten, was Auskunft darüber geben konnte, was die Hugenotten zu tun beabsichtigten«, erwiderte sie, während sie aus den Augenwinkeln wahrnahm, wie der Zwerg im Hintergrund unbeteiligt den Mantel seines Herrn glatt strich. Er gab sich ganz den Augenschein, als würde er dem Gespräch gar nicht zuhören, doch sie war sich sicher, dass er genau das Gegenteil tat.
    Der Kardinal stellte ihr weiter Fragen und wollte wissen, was sie dem Geheimdienst konkret für Informationen gegeben hätte. Dann mischte sich der spanische Botschafter mit einem Mal ins Gespräch.
    »In La Rochelle wurde ein Krämer getötet – er war dein Mittelsmann, nicht wahr?«
    »Ja«, bestätigte sie und fragte sich, woher er davon wusste.
    »Weißt du, wer ihn getötet hat?« Die Frage klang beiläufig, aber Madeleine bemerkte den lauernden Ausdruck in den Augen des Spaniers.
    Deshalb hatte man sich die Mühe gemacht, sie hierherzubringen, begriff sie mit einem Mal. Die beiden Männer wollten wissen, wie viel sie über den Verräter der Guise wusste, der sich bei den Hugenotten befand, und ob sie

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