Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
verletzt worden … Dabei hätte ich es verhindern können. Ich wusste, was geschehen würde!«, stieß sie hervor. In ihrer Stimme schwangen noch immer Schuldgefühle.
Die Äbtissin schüttelte streng den Kopf. »Das weißt du nicht, Madeleine. Es ist anmaßend und gefährlich, so etwas auch nur zu denken. Keiner kann wissen, was geschehen wird. Kein Mensch zumindest! Nur Gott allein kennt die Zukunft – und vielleicht noch der Teufe l !«, fügte sie hinzu.
Ihre letzten Worte ließen Madeleine zusammenzucken. Sie dachte an den Herzog und seine Männer. »Aber was soll ich jetzt machen? Was soll ich ihnen sagen, wenn sie mich fragen?«
Die Äbtissin sah sie besorgt an. »Ich weiß es nicht. Wir werden versuchen, den Herzog und seine Männer, solange es geht, hinzuhalten. Wir könnten behaupten, dass du dein Gedächtnis verloren hast, aber das wird sie nicht ewig abhalten. Die Situation ist mehr als schwierig. Egal, was du ihnen sagen wirst …«
Sie ließ den Satz unvollendet, doch Madeleine begriff auch so, was sie meinte. Würde sie die Wahrheit sagen, lief sie Gefahr, der Hexerei verdächtigt und angeklagt zu werden. Tat sie es nicht, würde man sie dagegen für eine Komplizin der Hugenotten halten. Beides war gleich schlimm. Sie verspürte eine aufsteigende Übelkeit, als ihr klar wurde, dass sie beides wahrscheinlich mit dem Leben zu bezahlen hätte.
Die Äbtissin räusperte sich. »Du solltest vielleicht wissen, dass die Männer, denen du das Leben gerettet hast, zwei bedeutende Führer der Hugenotten waren – der Admiral de Coligny und der Prinz de Condé.«
Madeleine schaute sie ungläubig an. Plötzlich verstand sie die Wut in dem Gesicht des Herzogs. Im gesamten Land wusste man, dass die Guise trotz des Freispruchs von Coligny einen Racheschwur gegen den Admiral geleistet hatten. Und sie, Madeleine, ein unbedeutendes junges Mädchen, hatte die Pläne dieser mächtigen Männer vereitelt.
»Mein Gott«, entfuhr es ihr entsetzt.
Sie bemerkte, dass die Äbtissin ihrem Blick auswich. »Bete zu Gott, Madeleine. Er wird dir den richtigen Weg weisen«, sagte sie in eindringlichem Ton.
Hilflos erhob sich Madeleine vom Stuhl. »Aber was soll ich denn bloß tun?«, fragte sie erneut.
»Das kann ich dir nicht sagen«, erwiderte die Äbtissin. »Ich wollte nur, dass du vorbereitet bist und weißt, was geschehen wird.« Ihre Hand griff kurz nach Madeleines Arm. Sie schaute das Mädchen an, und einen Moment lang wirkte es, als wollte sie noch etwas sagen, doch dann schwieg sie.
Madeleine fürchtete, dass ihr die Tränen in die Augen steigen würden. Hastig wandte sie sich ab.
Wie betäubt begab sie sich kurz darauf an der Seite von Schwester Philippa zurück zum Krankentrakt.
»Wir werden sagen, dass du noch nicht wieder ansprechbar bist. Deshalb wollte dich die Äbtissin auch unbedingt vor der Frühmesse sprechen, damit dich niemand sieht. Bis zum Abend können wir den Herzog und seine Männer bestimmt hinhalten«, sagte Schwester Philippa, als sie wieder ihr Bett erreichten.
Bis zum Abend? Und dann? Madeleine war noch immer übel. Hatte sie durch ihre Vision wirklich dem Admiral de Coligny das Leben gerettet? Sie erinnerte sich wieder, wie man im letzten Jahr überall davon gesprochen hatte, dass die Guise von ihren Anhängern einen Schwur verlangt hatten, dass sie und ihre Nachkommen nicht eher ruhen würden, bis der Tod ihres Anführers und Familienoberhaupts gerächt war. Mein Gott, was hatte sie bloß getan? Panik ergriff sie. Sie musste hier weg – fliehen, das war ihre einzige Chance. Und zwar sofort, bevor der Herzog und seine Männer kamen.
Doch Schwester Philippa stand noch immer neben ihr. Madeleines Blick fiel auf den leeren Krug neben dem Bett. »Verzeiht, könnte ich wohl etwas Wasser zu trinken bekommen? Mir ist ein bisschen schwindlig«, sagte sie und gab sich dabei Mühe, ihrer Stimme einen geschwächten Ton zu verleihen.
»Natürlich!« Schwester Philippa griff nach dem Krug und schickte sich an, den Raum zu verlassen.
Madeleine drehte sich sofort um und griff hastig nach dem kleinen Lederbeutel, den sie unter die Bettdecke gesteckt hatte, und schob ihn in ihre Rocktasche. Suchend glitten ihre Augen durch den Raum. Sie brauchte ein anderes Kleid – in dem Klosterschülerinnengewand würde man sie sofort erkennen. Sie bemerkte die Truhe an der Wand. In der Hoffnung, dort etwas zu finden, lief sie hin und hob den schweren Deckel hoch.
»Was tust du da?«
Madeleine fuhr zusammen.
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