Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
würde sie hier finden! Doch daran durfte sie nicht denken.
Sie verknotete ihr Bündel, nahm es auf den Rücken und schob die Ärmel ihres Kleides hoch. Vorsichtig setzte sie ihren Fuß auf die erste Stufe und zog sich mit den Händen nach oben. Ihre Finger klammerten sich mit aller Kraft an die moosige Oberfläche des Steins, während sie langsam nach oben stieg. Sie hatte fast die Hälfte geschafft und stellte ihren Fuß auf die nächste Stufe, doch diese war überraschend glatt und feucht – sie glitt aus und drohte mit ihrem gesamten Körper zur Seite zu rutschen. Verzweifelt krallten sich ihre Hände in den Stein. Nur mit Mühe gelang es ihr, wieder Halt zu finden. Ihr Herz raste, und sie wagte nicht, sich zu bewegen. Sie versuchte, ruhig durchzuatmen. Dann zwang sie sich weiterzuklettern. Stufe für Stufe. Der Weg schien ihr endlos, aber schließlich erreichte sie den obersten Absatz und zog sich mit letzter Anstrengung über den Rand. Sie sah, dass sie sich in einer Felsspalte an einem Abhang mitten im Wald befand. Mit zittrigen Knien ließ sie sich auf den Boden sinken.
Eine Zeit lang war sie unfähig, sich zu bewegen, und saß einfach nur da. Es kam ihr alles wie ein finsterer Traum vor. Sie fühlte sich innerlich wie erstarrt. Erneut drohte sie die Erschöp fung zu übermannen. Doch hier konnte sie nicht bleiben – sie musste weiter … Fliehen – das war ihre einzige Chance. Wir werden versuchen, den Herzog und seine Männer bis zum Abend hinzuhalten! , hatte Schwester Philippa gesagt. Mehr Vorsprung würde sie nicht haben.
Madeleine blickte an sich herunter – an ihren schlammverschmierten Schuhen und dem verschmutzten grauen Kleid, das sie sofort als Klosterschülerin verriet. Sie musste die Sachen wechseln. Sie öffnete ihr Bündel und griff nach dem braunen Kleid, das Schwester Philippa ihr mitgegeben hatte. Es war bereits etwas zerschlissen. Wahrscheinlich hatte es einmal einer der Schwestern gehört, bevor sie ins Kloster gekommen war. Sie schnürte das Mieder zu und band den zerknitterten Stoffgürtel um die etwas zu weite Taille. Dann griff sie nach ihrem Bündel, in dem sich nur noch ihre wenigen persönlichen Sachen befanden – etwas zu essen, die Medizin von Schwester Philippa, die sie zur Stärkung noch einige Tage nehmen sollte, ein Kamm mit zwei angebrochenen Zinken und eine alte Kette mit einem Anhänger, die einst ihrer Mutter gehört hatte. Die feinen, ursprünglich einmal silbernen Glieder waren ebenso wie die Fassung angelaufen, aber der Stein selbst besaß einen kräftigen dunklen Orangeton mit einem weißen Fleck, in dem sich irisierende Einschlüsse zeigten. Madeleine konnte sich nicht erinnern, dass ihre Mutter das Schmuckstück jemals getragen hatte, doch sie hatte mehrmals gesehen, wie sie den Anhänger mit nachdenklicher Miene in der Hand gehalten und betrachtet hatte. Der Gedanke, etwas zu haben, das sie einmal berührt und ihr gehört hatte, hatte etwas Tröstliches. Im Kloster hatten die Mädchen keinen Schmuck tragen dürfen, doch nun streifte Madeleine die Kette kurz entschlossen um den Hals und ließ sie in den Ausschnitt, unter den Stoff ihres Kleids, gleiten.
Dann zerknüllte sie ihr altes graues Gewand. Dabei fühlte sie den kleinen Ziegenlederbeutel, den sie im Kloster in die Rocktasche gesteckt hatte. Sie hätte ihn beinah vergessen. Eilig holte sie ihn hervor. Sie konnte noch immer nicht glauben, dass es sich nicht nur um einen Traum gehandelt haben sollte, und öffnete das Beutelchen. Wie sie an der harten Struktur bereits gespürt hatte, befanden sich einige Münzen darin – und ein kleines Papier. Verwundert entrollte sie es. La Bonnée stand darauf geschrieben. Anscheinend war das ein Haus oder Anwesen in der Nähe von Orléans. Eine kurze Wegbeschreibung befand sich dabei. Ganz unten war noch ein Satz zu lesen: »Begib dich dorthin. Man wird dir helfen!« Kein Name, keine Unterschrift.
Verwirrt hielt sie inne, dann begriff sie, dass der Zettel und das Geld von einem der Hugenotten stammten. Wer sonst könnte ein Interesse daran haben, ihr zu helfen? Außerdem lag die Gegend um Orléans fest in der Hand der Protestanten, wie Madeleine wusste. Sie überlegte nur kurz. Auch wenn die Menschen dort Ketzer waren – sie hatte keine Wahl. Dort würde sie hingehen. Es war zumindest ein Ort, an den sie sich flüchten konnte und der weit weg von dem Herrschaftsgebiet der Guise lag. Das war das Einzige, das zählte.
Sie steckte den Zettel eilig wieder in das
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