Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
der Krankentrakt des Klosters befinden musste.
Er fand sie nicht sofort. In dem ersten Raum lag eine kranke Nonne, die im Fieberwahn leise mit sich selbst sprach. Sie bemerkte nicht einmal, dass jemand über die Schwelle gekommen war. Er zog sich leise wieder zurück. Das zweite Zimmer war leer. Er blieb kurz stehen, bevor er die Tür zu dem dritten Raum öffnete. Er erkannte sie auf Anhieb. Die Kranke, die im Schein des spärlichen Lichts der kleinen Bettlaterne unruhig den Kopf hin und her warf, war das Mädchen aus dem Wirtshaus!
Vorsichtig näherte er sich ihrem Bett und blickte auf ihr Gesicht, dessen helle Haut sich deutlich von den dunklen Wimpern ihrer geschlossenen Augen und den zart geschwungenen Brauen abhob. Ihr langes kastanienbraunes Haar lag offen über ihren Schultern, und ihre Wangen waren erhitzt und gerötet. Hatte sie Fieber? Er legte die Hand auf ihre Stirn, die tatsächlich heiß war. Sie war krank! Damit hatte er nicht gerechnet. Er unterdrückte einen Fluch. Sie sah leicht aus, aber auch wenn es ihm keine Schwierigkeiten bereiten würde, sie zu tragen, würde sein Plan so nicht umzusetzen sein. Er schüttelte sie sanft am Arm, doch sie reagierte nicht einmal, sondern warf den Kopf nur noch unruhiger hin und her. Er verstärkte seinen Griff und schüttelte sie erneut. Für einen kurzen Moment schlug sie wie in Trance die Augen auf und sah ihn an. »Kannst du mich verstehen?«, fragte er leise, doch sie stöhnte nur, und ihre Augen fielen wieder zu.
»Nein, wach auf!« Er versuchte ihren Oberkörper aufzu richten.
Ihre Augen öffneten sich etwas, doch er war sich nicht einmal sicher, ob sie ihn überhaupt sah.
Er überlegte kurz. Dann beugte er sich zu ihr.
»Hier, nimm das. Es ist für dich – falls du fliehen musst. Du darfst niemandem davon erzählen!«, sagte er mit eindringlicher Stimme. Er drückte ihr den kleinen Lederbeutel in die Hand, den er in weiser Voraussicht mitgebracht hatte.
»Hast du mich verstanden?«
»Mir ist so heiß«, murmelte sie statt einer Antwort, dann fielen ihre Augen zu, aber er stellte erleichtert fest, dass ihre Hand sich fest um den Beutel schloss. Sorgsam zog er die Decke darüber. Mehr konnte er nicht tun. Lautlos schlich er sich weg.
24
M adeleine wollte weiterschlafen. Sie fühlte sich so unendlich müde und schwach.
»Du musst das trinken!«, sagte eine Stimme zu ihr. Es war Schwester Philippa. Gehorsam öffnete sie die Lippen. Jeder Schluck fiel ihr schwer, aber die Nonne zwang sie, den Becher mit der bitteren Medizin bis auf den letzten Rest zu leeren. »Damit wird es dir gleich besser gehen«, versprach sie. Sie sprach mit gedämpfter Stimme, als hätte sie Angst, jemand könnte sie hören.
»Du musst dich jetzt anziehen, die Äbtissin will dich sehen.«
»Aber ich fühle mich nicht gut!«, erwiderte Madeleine.
»Du musst!« Etwas an Schwester Philippas sonst so ruhigem Tonfall war anders als sonst. Sie wirkte ernst und besorgt – es war ihretwegen, begriff Madeleine, die mit einem Mal zu sich kam. Im Morgengrauen hatte ihr Fieber nachgelassen, und die Nonne hatte sie geweckt, kurz bevor die Glocken zur Frühmesse läuteten. Madeleine dachte an den seltsamen Traum, den sie gehabt hatte. Benommen ließ sie sich von Schwester Philippa hel fen, sich aufzusetzen, als sie etwas Hartes an ihrem Oberschenkel spürte. Ihre Finger griffen danach, und sie erstarrte. Das konnte nicht sein! Doch ein kurzer Blick zeigte ihr, dass sie sich nicht geirrt hatte. Es war der Lederbeutel. Hastig schob sie ihn unter die Decke, bevor Schwester Philippa ihn sehen konnte. Der Mann – war es doch kein Traum gewesen? Sie versuchte, ihre verwirrten Gedanken zu ordnen. Mit Schaudern erinnerte sie sich wieder, was vor ihrer Ohnmacht geschehen war, an den schrecklichen Anschlag und den Kampf im Wirthaus. Wie war sie danach zurück ins Kloster gekommen?
Widerstandslos zog sie das Kleid über, das Schwester Philippa ihr reichte.
»Komm jetzt!«, drängte die Nonne sie.
Die ersten Schritte fühlten sich wacklig an, doch dann spürte Madeleine, dass sich ihr Kreislauf belebte. Sie sah, wie Schwester Philippa einen vorsichtigen Blick den Flur entlang warf – er war leer. Sie zog sie mit sich. Für einen Moment wurde Madeleine bewusst, was für ein seltsames Paar sie abgeben mussten – die humpelnde alte Nonne und das zittrige junge Mädchen.
Merkwürdigerweise gingen sie nicht zu den Gemächern der Äbtissin, sondern verließen das Haus über einen Seitenausgang und
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