Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
Beutelchen und tat beides zurück zu ihren anderen Sachen. Dann zerknüllte sie ihr altes Gewand und warf es hinunter in die Tiefe des Schachts. Mit ihrem Bündel über dem Arm trat sie aus dem Schutz der Felsen heraus. Der Pfad, der nach rechts geht, führt in Richtung Westen nach Sens. Richte dich nach dem Stand der Sonne, um dich zu orientieren , hatte ihr Schwester Philippa geraten.
Madeleine warf einen Blick über sich zu den Baumwipfeln, wo man die glitzernden Strahlen erkennen konnte.
Der dichte, dunkle Wald war bedrohlich, aber ihre Furcht vor wilden Tieren und Überfällen war nicht halb so groß wie die vor dem Herzog und seinen Männern. Sie musste sich beeilen!Die Angst verlieh ihr neue Kraft. Sie rannte, nur unterbrochen von kurzen Pausen, in denen ihre brennenden Lungen sie zwangen, langsamer zu gehen und Luft zu schöpfen. Irgendwann begann sich der Wald zu lichten. Sie beschleunigte ihre Schritte.
26
D ie Äbtissin stand am Fenster und beobachtete die bewaffneten Männer, die zwischen den aufgelösten Nonnen und Zöglingen von St. Angela über den gepflasterten Hof liefen. Sie hatten begonnen, das Kloster zu durchsuchen, jeden Winkel und jede Ecke stellten sie auf den Kopf, als glaubten sie, das Mädchen hätte sich irgendwo versteckt.
Obwohl sie nach Madeleines Flucht geahnt hatte, dass dies passieren würde, erschrak sie ob der Rücksichtslosigkeit, mit der die Männer des Herzogs vorgingen. Nicht einmal den Nonnen, die in Klausur lebten, hatte man erlaubt, sich zurückzuziehen.
»Es wäre einfacher, wenn Ihr uns helfen würdet«, sagte der Herzog d’Aumale mit schmalen Augen, der einige Schritte neben ihr stand. Sie drehte sich zu ihm. Die Art, wie er sie fixierte, hatte etwas von einem Raubtier, das kurz davor stand, zum Sprung anzusetzen.
»Ich weiß wirklich nicht, wo sie geblieben ist«, erwiderte die Äbtissin. Sie rang in einer gespielten Geste die Hände und hoffte, dass Gott ihr diese halbe Lüge vergeben würde. Der Herzog war am Vormittag mit seinen Leuten zurückgekommen und hatte verlangt, das Mädchen zu sehen. »Schwester Philippa wollte nach der Frühmesse nach ihr schauen, und da war sie verschwunden! Keine der Nonnen hat es bemerkt. Sie muss aus dem Fenster geklettert sein«, hatte die Äbtissin erklärt, die ihre eigenen Vermutungen hegte, wer Madeleine geholfen hatte.
Der Herzog kam auf sie zu und blieb so dicht vor ihr stehen, dass sie seinen Atem riechen konnte. »Wenn wir dieses Mädchen nicht finden, werde ich dafür sorgen, dass Ihr die längste Zeit Äbtissin dieses Klosters gewesen seid, glaubt mir!«, sagte er kalt. Er drehte sich abrupt um und verließ den Raum. Sie konnte hören, wie seine Schritte draußen auf dem steinernen Boden des Flurs widerhallten, und zweifelte nicht an seinen Worten. Ein einziger Satz von ihm an seinen Bruder, den mächtigen Kardinal, und man würde vom Mutterkloster in Clairvaux sofort eine Untersuchung über die Vorfälle einleiten. Doch sie fühlte sich allein Gott und ihrem Gewissen verpflichtet.
Sorgenvoll blickte sie aus dem Fenster. Sie war unendlich er leichtert, dass Madeleine geflohen war, und hoffte inbrünstig, der Allmächtige würde sich ihrer annehmen und sie auf ihrem weiteren Weg schützen.
27
C laude d’Aumale war die Treppe zur Eingangshalle des Klosters hinuntergestiegen. Er musste sich eingestehen, dass es ein grober Fehler gewesen war, das Mädchen hierzulassen. Angesichts der Autorität, die er und seine Familie verkörperten, war er sich sicher gewesen, die Nonnen würden sie nicht aus den Augen lassen.
Er fragte sich, wie sie überhaupt hatte entkommen können. Die Wachen vor dem Kloster hätten sie sehen oder zumindest ihre Spuren finden müssen, doch sie hatten nicht einen einzigen Fußabdruck von ihr entdeckt. Ihr Verschwinden war ein ebensolches Rätsel für ihn wie die Tatsache, dass sie Coligny vor dem Anschlag gewarnt hatte.
Nachdenklich schickte er sich an, die Halle zu durchqueren, als hinter einem Pfeiler die Gestalt einer korpulenten Nonne hervortrat.
»Verzeiht, seid Ihr der Herzog d’Aumale?«, fragte sie mit gesenkter Stimme.
Er drehte sich zu ihr. Ihr Gesicht mit den blassblonden Augenbrauen und der weißlich gelben Haut, die an sauer gewordene Milch erinnerte, war von einer abstoßenden Hässlichkeit, und er wollte einfach weitergehen. Überraschend stellte sie sich ihm in den Weg.
»Ihr sucht dieses Mädchen, nicht wahr? Diese Deutsche – Madeleine Kolb, oder?«, fragte sie weiter.
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