Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Titel: Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
Vom Netzwerk:
liefen zu einem Nebengebäude.
    Schwester Philippa schaute sich noch einmal um, bevor sie die Tür öffnete. Wenig später betraten sie einen mit schlichten dunklen Holzmöbeln eingerichteten Raum. Es roch muffig und nach kalter Asche, als wäre lange Zeit keine frische Luft hier hereingekommen, schoss es ihr durch den Kopf. Sie erinnerte sich, dass das Gebäude als gelegentlicher Gästepavillon für den Besuch männlicher Geistlicher benutzt wurde. Dann sah sie die Äbtissin. Sie stand hinter einem der vier Stühle, die um einen Tisch herum gruppiert waren, und hatte ihre Hände auf der Lehne abgestützt. Ihre Miene war ungewöhnlich ernst.
    Madeleine bekam plötzlich Angst. Sie wusste nicht, was nach ihrer Ohnmacht geschehen war, doch der Gesichtsausdruck der Äbtissin verriet ihr auch ohne viele Worte, dass sie sich in großen Schwierigkeiten befand.
    »Setz dich, Madeleine«, sagte Margarète de Foix und gab Schwester Philippa gleichzeitig mit einem Kopfnicken zu verstehen, sie allein zu lassen.
    Madeleine nahm gehorsam auf einem der Stühle Platz. »Wir waren in großer Sorge um dich. Deine Ohnmacht war ungewöhnlich lang und tief«, erklärte die Äbtissin und setzte sich ihr gegenüber. Einen Augenblick lang schwieg sie. »Was ist in dem Wirtshaus passiert, Madeleine?«, fragte sie dann.
    Das Mädchen senkte den Blick.
    »Du musst es mir sagen. Nur dann kann ich dir helfen.«
    Helfen? Madeleine hob den Kopf. Und mit einem Mal begriff sie, dass ihre erste Annahme und Hoffnung, sie würde sich in Sicherheit befinden, weil sie nach ihrer Ohnmacht im Kloster erwacht war, falsch gewesen war. Einen kurzen Moment sah sie das Gesicht von dem Mann aus dem Wirtshaus vor sich, und sie spürte, wie ihr eine kalte Furcht den Rücken hochkroch. »Ich kann nicht …«, sagte sie.
    Die Äbtissin stieß einen Seufzer aus. »Weißt du, wie du nach deiner Ohnmacht hierhergekommen bist, Madeleine?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Fremde Männer haben dich gebracht – genauer gesagt, bewaffnete Gefolgsleute der Guise. Sie waren in Begleitung des Herzogs d’Aumale, der behauptet, dass du einigen gefährlichen Hugenottenanführern zur Flucht verholfen und damit eine wichtige Festnahme verhindert hast!«
    Madeleine verspürte einen leichten Schwindel, als sie ihre Worte vernahm. Festnahme? Hatten sie das behauptet? Aber das stimmte nicht – sie hatten sie töten wollen! Erst dann drang der Name, den die Äbtissin genannt hatte, zu ihr. Die Guise ? Madeleine wurde blass, und ihr Magen krampfte sich zusammen, als ihr mit einem Mal bewusst wurde, in welche Ereignisse sie dort hineingeraten war.
    »Sie werden zurückkommen und dich verhören. Nur deine Ohnmacht hat dich bis jetzt geschützt. Du musst mir sagen, was passiert ist. Wir haben nicht viel Zeit«, drängte die Äbtissin.
    Madeleine starrte verzweifelt auf die Tischplatte vor sich. »Ihr werdet denken, dass ich verrückt bin, hochwürdige Mutter!«, sagte sie leise.
    Eine Hand legte sich sanft auf die ihre. »Nein, das werde ich nicht.«
    Etwas in ihrem Tonfall ließ Madeleine den Kopf heben. »Ich habe es vorhergesehen …«, sagte das Mädchen dann. »Es war wie eine Vorahnung, als hätte ich für einen Moment in die Zukunft geblickt«, erzählte sie stockend. »Ich habe die Männer gesehen, wie sie ins Wirtshaus gestürmt sind und sie alle getötet haben …« Sie brach ab, weil sie sich mit Schaudern an die Bilder erinnerte, doch nach einer kurzen Pause sprach sie weiter und berichtete der Äbtissin in allen Einzelheiten, was geschehen war. »Es war furchtbar. Es ist nicht das erste Mal, dass es mir passiert ist. Ich will diese Dinge nicht sehen«, stieß sie schließlich hervor. Tränen rannen über ihre Wangen.
    Der Druck auf ihrer Hand wurde fester. »Sieh mich an, Madeleine.«
    Das Mädchen hob den Kopf.
    »Das, was du mir eben erzählt hast, darfst du nie irgendjemandem erzählen, hast du gehört!«
    Madeleine nickte. Der eindringliche Tonfall der Äbtissin erinnerte sie plötzlich an ihre Mutter, an die Gefahren, die sie ihr einst vor Augen gehalten hatte, aber im Gegensatz zu ihr schien ihr die Äbtissin zumindest zu glauben.
    »Du darfst dich von diesen Visionen nicht in Versuchung führen lassen und vor allem nie wieder in die Ereignisse eingreifen!«
    Madeleine blickte sie an. »Das kann ich nicht. Ich habe es versucht …« Sie kam ins Stocken. »Als Françoise von dem Dachziegel getroffen wurde, habe ich mich bemüht, die Bilder zu ignorieren. Und dann ist sie

Weitere Kostenlose Bücher