Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
Sie drehte sich um. Schwester Philippa stand mit dem Krug in der Hand auf der Schwelle.
Madeleine sah sie entsetzt an. Tränen traten in ihre Augen. »Bitte, ich muss hier weg«, flehte sie. »Versteht Ihr denn nicht, der Herzog, er wird mich töten, wenn er erfährt, was wirklich geschehen ist.«
Die alte Nonne schloss die Tür hinter sich. »Wolltest du ein fach so heimlich durch den Hintereingang des Klosters verschwin den?«, fragte sie tonlos.
Madeleine wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und hob entschlossen das Kinn. »Ja, wenn ich jetzt nicht fliehe, dann wird es zu spät sein …«
»Das geht nicht«, unterbrach Schwester Philippa sie. Sie kam langsam auf das junge Mädchen zu. »Der Herzog hat um das ganze Kloster seine Wachen aufgestellt!«
Madeleine rang um Fassung. Was sollte sie nun tun? Tränen liefen über ihre Wangen.
Die alte Nonne legte ihre faltigen Finger auf ihre Hand.
»Es gibt einen unterirdischen Gang«, sagte sie leise. »Er wurde beim Bau des Klosters für den Kriegsfall miterrichtet und führt bis in den Wald hinein. Wenn du willst, bringe ich dich dorthin, jetzt gleich.«
Ungläubig wandte Madeleine ihr das Gesicht zu. Wie sollte sie ihr das jemals danken? »Ich brauche ein anderes Kleid«, sag te sie dann.
Schwester Philippa nickte. »Ich werde eines besorgen und deine anderen Sachen und Medizin holen.«
»Aber Euer Bein, Ihr könnt kaum laufen und müsst Schmerzen haben«, wandte Madeleine besorgt ein.
»Es geht schon. Außerdem ist das jetzt unwichtig. Wir müssen uns beeilen. Du musst weg sein, bevor die Frühmesse zu Ende ist.«
25
H inter ihr und vor ihr war es stockfinster. Madeleine umklammerte den Leuchter mit der Kerze, die gerade so viel Licht spendete, dass sie den Boden vor sich sehen konnte. Es war ein ekliger schlammiger Untergrund, in dem ihre Füße bis zu den Knöcheln versanken. Die feuchte, modrige Luft, die in dem Gang hing, nahm ihr den Atem. Von Zeit zu Zeit versperrten größere Steinbrocken den Weg, und sie fragte sich, ob in den letzten Jahrhunderten überhaupt irgendein Mensch hier entlanggekommen war. Was, wenn der Ausgang verschüttet war? Allein bei dem Gedanken, dass sie vielleicht wieder umkehren und den gesamten Weg zurückgehen musste, hätte Madeleine in Tränen ausbrechen können. Sie verbot sich, daran zu denken, und setzte vorsichtig weiter Fuß vor Fuß, um vorwärtszukommen. Plötzlich hörte sie ein raschelndes Geräusch. Erschrocken blieb sie stehen. Sie ließ den Leuchter in einem Halbkreis um sich herumgleiten und blickte schließlich gen Boden. Mehrere Paare glänzender dunkelbrauner Augen funkelten ihr entgegen. Ratten! Sie wich mit einem Aufschrei zurück. Das Licht flackerte – und erlosch. In der Dunkelheit hörte Madeleine die quietschenden Laute der Tiere. Etwas berührte ihren Fuß, und sie schlug mit ihrem Bündel voller Panik um sich. Raschelnd stoben die Ratten davon. Dann war es still. Mit zitternden Händen ging sie in die Knie und beugte sich nach unten, um nach dem Leuchter zu tasten, der ihr heruntergefallen war. Doch ihre Finger fühlten nur einen Stein und einen weichen Erdklumpen. Was sollte sie jetzt machen? Sie musste weiter – sie hatte keine Wahl. Sie richtete sich auf. Schritt für Schritt setzte sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Eine Ewigkeit verging so, ohne dass der Tunnel ein Ende zu nehmen schien. Konnte es sein, dass sie sich verlaufen hatte?
In diesem Moment nahmen ihre Augen, die sich inzwischen etwas an die Dunkelheit gewöhnt hatten, in der Ferne einen hellen Punkt wahr. Sie tastete sich langsam an der Wand neben sich weiter. Doch das Licht blieb unverändert. Resigniert blieb sie stehen. Hatte sie sich getäuscht? Sie ging zögernd weiter, als der Gang unvermittelt eine Biegung nach rechts machte und sie in einiger Entfernung einen deutlichen Lichtschein erkennen konnte. Eine Welle der Erleichterung durchflutete sie. Sie beschleunigte ihre Schritte. Niemals hätte sie geglaubt, dass der Anblick von Tageslicht sie so glücklich machen würde.
Der Gang mündete in einen Schacht aus gehauenem Stein, der einem Brunnen ähnelte. Das Licht fiel von etlichen Fuß über ihr nach unten. Wie sollte sie hier herauskommen? Sie verspürte abermals einen Anflug von Panik. Dann entdeckte sie die Stufen, die wie eine Leiter in die Wand eingelassen waren. Sie waren schmal und zum Teil mit Moos bewachsen. Ihr Blick glitt unwillkürlich nach oben. Was, wenn sie ausrutschte oder stürzte? Niemand
Weitere Kostenlose Bücher