Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
damals im Zelt der Medici gesehen hatte. Rémi hatte ohne Frage recht. »Ich habe davon gehört«, sagte sie.
Er schien verblüfft. »Tatsächlich?«
Sie nickte und bückte sich, um ihr Bündel aufzuheben. Dabei fiel ihr Blick auf die übereinandergeschlagenen Beine des Zwergs. Sein rechtes Hosenbein war etwas hochgerutscht, und sie konnte nicht verhindern, dass sie zusammenzuckte, als sie die eiserne Fußfessel sah, die seinen Knöchel umschloss. Die Haut drum herum war gerötet.
Rémi hatte ihren Blick bemerkt. »Ich bin ein paar Mal weggelaufen! Deshalb machen sie mich nachts fest«, erklärte er nüchtern.
Sie schwieg. Anscheinend betrachteten die Gaukler ihn als ihr Eigentum – wie irgendein Tier. »Du solltest in der Nacht etwas Salbe auf die Haut tun, damit es sich nicht weiter entzündet«, riet sie ihm und nahm ihr Bündel über die Schulter. Sein Schicksal rief ihr in unangenehmer Weise die Gefahr in Erinnerung, in der sie sich selbst befand. Sie musste dringend weiter – sie hatte schon viel zu viel Zeit verloren.
»Also dann …«, sagte sie.
Rémi war von dem Baumstumpf gesprungen und stellte sich ihr unerwartet in den Weg. »Wie, du willst jetzt aufbrechen? Es wird bald dunkel! Wo willst du denn jetzt so ganz allein hin? Bist du etwa vor jemandem auf der Flucht?«, fragte er spöttisch.
Sie erschrak. »Nein, ich bin auf dem Weg zu Verwandten nach Orléans«, log sie und spürte zu ihrem Ärger, wie sie dabei rot wurde.
Der Zwerg sah sie prüfend an. »Tatsächlich?«, fragte er. »Nach Orléans? Dorthin wollen wir auch …«
» Wir ? Ich dachte, du wärst vor den Gauklern weggelaufen?«, erwiderte sie.
Rémi schüttelte seine rotbraunen Locken. »Aber nein, von hier aus würde ich mit meinen kurzen Beinen kaum weit kommen. Ich verstecke mich nur, bis Margaux sich wieder etwas beruhigt hat.« Er musterte sie nachdenklich. »Du könntest uns begleiten. Wir könnten gut eine helfende Hand gebrauchen, jetzt, da Thérèse verletzt ist. Wir reisen zwar langsamer, weil wir unterwegs unsere Vorstellungen geben, aber für dich wäre das allemal weniger gefährlich, als so allein durch die Lande zu ziehen!«
Madeleine schüttelte ablehnend den Kopf. »Danke, aber ich möchte so schnell es geht nach Orléans kommen«, antwortete sie. Dabei war das Angebot durchaus verlockend – der Gedanke an die bevorstehende Nacht und die vielen Meilen, die sie noch allein zurückzulegen hatte, machten ihr Angst. Trotzdem hatte sie das Gefühl, dass es zu gefährlich war, sich anderen Menschen anzuschließen. Allein fühlte sie sich sicherer und würde sich im Zweifelsfall auch besser verstecken können.
Sie nickte Rémi daher zum Abschied noch einmal zu und wandte sich zum Gehen.
Als sie den Abhang herunterkam, sah sie von Weitem, dass die Gauklertruppe inzwischen ein kleines Lager aufgeschlagen hatte. Der Tuchstoff der beiden Zelte, die sie aufgebaut hatten, war verschmutzt und löchrig, und die beiden Maulesel und das Pferd wirkten ebenso abgemagert wie der Bär mit dem Nasenring, der neben einem klapprigen Fuhrwagen an einer Kette festgemacht war. Es war offensichtlich, dass sie alle um ihr tägliches Überleben kämpften. Ein beklemmendes Gefühl ergriff Madeleine. Ihre Mutter und sie waren zwar arm gewesen, aber sie hatten doch stets ein Dach über dem Kopf gehabt und nur selten Hunger leiden müssen. Und auch in St. Angela hatten die Nonnen stets genug zu essen für ihre Zöglinge gehabt. Einen kurzen Augenblick lang fragte sie sich, wie ihre Zukunft nun wohl aussehen würde.
Als sie weiterging, bemerkte sie, dass sich hinter dem Lager der Gaukler ein kleiner Bach durch die Landschaft zog. Vermutlich hatte die Truppe deshalb den Platz zum Übernachten ausgesucht. Am Ufer, nur einige Schritte entfernt, kniete eine Frau. Sie hielt ihren einen Arm in einer seltsam steifen Haltung von sich, während sie gleichzeitig mit schmerzverzerrtem Gesicht versuchte, mit der anderen Hand ein Tuch ins Wasser zu tauchen. Dabei drohte sie an der unebenen Böschung das Gleichgewicht zu verlieren.
»Wartet. Ich helfe Euch!«, rief Madeleine. Eilig lief sie zu ihr.
Die Frau, die sich gerade noch mit der einen Hand hatte halten können, blickte sie verwundert an. Sie war von knochiger, kräftiger Statur und in mittleren Jahren. Falten zogen sich bereits durch ihr Gesicht, das von einer zerknitterten alten Haube umrahmt wurde. Auf ihrer Stirn perlte Schweiß. »Danke!«, sagte sie, als Madeleine sie stützte und ihr wortlos
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