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Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Titel: Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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nicht, was dich das angeht«, entgegnete sie mit einem kalten Blick, während sie aufstand, sich das Gras vom Rock klopfte und eine Strähne ihres Haars unter die Haube steckte.
    Der Zwerg, der sie ungeniert betrachtete, zuckte die Achseln. »Bitte, es gibt weiß Gott Schönere als dich …«, verkündete er wenig charmant. Sein Blick glitt von ihr weg, den Hügel hinab, als sich sein Gesichtsausdruck plötzlich schlagartig veränderte. Er stieß einen wüsten Fluch aus, duckte sich und flüchtete sich, ehe Madeleine es sich versah, mit einem Satz hinter sie.
    »Was soll das?« Sie versuchte, sich um ihre eigene Achse zu drehen, um zu erkennen, was er hinter ihr machte, aber er hielt sich an ihrem Rock fest.
    »Rémi!«, erscholl in diesem Augenblick ein durchdringender Schrei den Hügel hinauf. Madeleine zuckte zusammen. Sie sah, dass eine füllige Frau mit gerafften Röcken den Hügel hinaufgestapft kam. Wütend schimpfte sie vor sich hin und schaute sich suchend um.
    »Rémi! Verdammt, wo bist du, Rémi?«, brüllte sie aufs Neue.
    Ihr Anblick erinnerte an ein aufgebrachtes Schlachtross, schoss es Madeleine durch den Kopf.
    Als die Frau sie bemerkte, blieb sie auf der Anhöhe stehen und hielt sich die Seiten. Ihr üppiges Dekolleté, das jeder Amme Ehre gemacht hätte, wogte auf und ab. Sie war jünger, als man von weitem vermutet hätte – Ende zwanzig, vielleicht dreißig, schätzte Madeleine. Ihr langes strähniges Haar, das mit einem Tuch aus der Stirn und dem Gesicht gebunden war, fiel ihr in hellbraunen Wellen fast bis zur Taille herunter.
    »Hast du vielleicht einen Zwerg gesehen?«, fragte sie und entblößte dabei beim Sprechen eine Zahnlücke.
    Madeleine, die spürte, wie sich hinter ihr zwei Hände in ihren Rock krampften, schüttelte den Kopf. »Ich? Nein!«
    »Wirklich nicht? Mit rotbraunen Locken? Klein und hässlich, wie Zwerge nun mal sind? Diese nichtsnutzige Kreatur drückt sich schon wieder vor der Arbeit!«, schnaubte sie. »Ich werde ihm das Fell gerben, dass ihm Hören und Sehen vergeht, wenn er mir unter die Finger kommt«, setzte sie düster hinterher. Wortlos wandte sie sich daraufhin ab und stapfte mit geballter Faust wieder den Hügel hinab.
    Madeleine zweifelte nicht daran, dass sie ihre Drohung in die Tat umsetzen würde, und wagte nicht, sich zu bewegen, bis sie aus ihrem Blickfeld verschwunden war. »Sie ist weg!«, sagte sie dann.
    Rémi kam vorsichtig hervor. Er stieß einen erleichterten Seufzer aus, als er sah, dass sie die Wahrheit gesprochen hatte. »Beim heiligen Antonius, dieses Weib ist wahrlich eine echte Hexe!«, stieß er hervor. »Danke, dass du mich nicht verraten hast!«, fügte er dann hinzu. Seine Stimme war mit einem Mal merklich freundlicher geworden.
    Madeleine nickte. »Warum sucht sie dich?«, fragte sie.
    »Warum? Weil ich ihre Arbeit machen soll«, antwortete Rémi mürrisch. »Thérèse, die für die Tiere und die Wäsche zuständig ist, hat die Pranke von unserem Braunbären zu spüren bekommen und ist außer Gefecht gesetzt.« Er deutete mit der Hand den Hügel hinab, wo man tatsächlich zwischen den Karren und Wagen einen großen Käfig erkennen konnte. »Und nun soll Margaux ihre Arbeit mitmachen. Aber die große Wahrsagerin ist sich natürlich zu fein dafür!«, erklärte er höhnisch.
    Madeleine, die inzwischen verstanden hatte, dass der Zwerg zu einer von Ort zu Ort ziehenden Gruppe von Gauklern gehörte, war überrascht. »Sie ist Wahrsagerin?« Margaux’ schwerfällige Erscheinung schien nur schwer mit diesem Bild vereinbar.
    »Pah! Natürlich gibt sie das nur vor! Selbst ich könnte mehr sehen, wenn ich in eine Glaskugel schaue«, erwiderte Rémi abfällig. Er hatte sich auf einen Baumstumpf sinken lassen. »Klein und hässlich« , murmelte er entrüstet. Margaux’ Worte schienen ihn getroffen zu haben. Er wandte sich zu Madeleine. »Sie begreift einfach nicht, dass ich etwas Besonderes bin. Ich bin nämlich eine Rarität!«, verkündete er mit stolz erhobenem Kinn und schlug dabei kokett die Beine übereinander.
    Der Anflug eines Lächelns huschte über Madeleines Gesicht. Die seltsame Begegnung mit dem Zwerg ließ sie für einen Augenblick ihre eigenen Sorgen und Ängste vergessen.
    »Du glaubst mir nicht, was?«, fragte er, ihr Lächeln missverstehend. »Aber es ist wahr, ich bin kleiner als die meisten Zwerge und damit ganz besonders begehrt. Am Hof reißt man sich um so etwas wie mich!«
    Madeleine erinnerte sich an die Zwergin, die sie

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