Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
Er trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. Ein Teil seiner Männer war ausgesandt worden, um die Straßen und wichtigsten Wege in die benachbarten Gebiete der Bourgogne und der Île de France zu kontrollieren, doch wenn die Kleine querfeldein lief und versuchte, im Schutz der Wälder und Felder das Land zu verlassen, konnte es schwierig werden, ihrer habhaft zu werden. Er verzog missmutig das Gesicht. Noch immer begriff er nicht, wie sie von dem Anschlag hatte wissen können. Nichts, was sie in den letzten Stunden im Kloster über das Mädchen erfahren hatten, deutete auf irgendeine Verbindung zwischen ihm und den Hugenotten hin. Es ergab alles keinen Sinn.
Er erinnerte sich an die seltsamen Behauptungen der Oberin. Sie steht mit dem Teufel im Bunde. Ohne Frage stand sie das, dachte Aumale finster, sonst hätte sie diesen elenden Ketzern und Mördern wohl kaum das Leben gerettet. Dennoch schien es ihm nur schwer vorstellbar, dass sie wirklich zu den Dingen fähig war, die getan zu haben ihr die Nonne unterstellt hatte.
Der Herzog erhob sich jäh von seinem Stuhl. Nun, was auch immer stimmte, um die Wahrheit zu erfahren, mussten sie das Mädchen finden – und zwar um jeden Preis.
30
G aspard war die Attraktion. Die Menschen scharten sich um ihn, wenn die Bälle und Kegel durch seine Hände in die Höhe tanzten – so schnell, dass einem schwindlig wurde. Er konnte sich dabei drehen, die Beine heben oder nach rechts und links wenden, ohne dass jemals etwas zu Boden ging. Und selbstverständlich konnte er dazu singen – mit großen Gesten und theatralischer Mimik, dass die Leute lachten.
»Wie machst du das nur?«, fragte Madeleine ungläubig nach der Vorstellung, die sie auf einem Platz inmitten eines kleinen Dorfes gegeben hatten.
Entgegen ihrer ursprünglichen Absicht hatte sie sich überreden lassen, mit den Gauklern weiterzuziehen. Thérèse, deren Wunde langsam heilte, hatte sie darum gebeten. Doch das war nicht der einzige Grund. Bei einer der Vorstellungen vor ein paar Tagen hatte Madeleine durch Zufall den Wortwechsel zweier Zuschauer mitbekommen. Voller Schrecken hatte sie gehört, wie die beiden Bauern darüber sprachen, dass die Männer der Guise überall die Straßen kontrollierten. Sie begriff, dass sie allein kaum eine Chance haben würde. Die Umwege, die die Gaukler machten – die über Land von Ort zu Ort zogen und überall dort, wo sich mehr als eine Handvoll Menschen zusammenfand, ihre Künste darboten –, würden für sie weit sicherer sein und waren ihr mit einem Mal mehr als recht.
Gaspard hatte ihr auf ihre Frage hin das Gesicht zugewandt. »Wie ich das mache?«, fragte er. Der Gaukler zuckte die Achseln. Er konnte nicht nur jonglieren, sondern beherrschte auch zahlreiche Taschenspielertricks und wusste bewundernswert gut die Flöte zu spielen. Die Andeutung eines Lächelns huschte über sein sehniges Gesicht mit den dunklen Augen. Seitdem es Thérèse besser ging, war er merklich freundlicher zu Madeleine geworden. Statt einer Antwort nahm er zwei Bälle aus seinem Kasten. Er warf einen in die Höhe – langsam, damit Madeleine sehen konnte, wie er ihn anschließend bewusst und gleichmäßig auffing, um ihn dann von der rechten in die linke Hand wandern zu lassen und wieder nach oben zu werfen. »Hast du gesehen?«
Sie nickte. Gaspard nahm einen zweiten Ball. »Und nun pass auf!« Er ließ ihn genau wie den ersten durch seine Hände laufen und in die Höhe fliegen. Madeleine sah fasziniert zu.
»Du musst nur auf die Bälle achten. Die Hände folgen von ganz alleine. Hier, probier mal!« Er fing die Bälle abrupt in der Luft ab und reichte sie ihr.
Sie nickte und warf mit konzentrierter Miene den ersten in die Luft. Es gelang ihr, ihn mit links aufzufangen und sogar nach rechts weiterzugeben, doch der zweite Ball glitt ihr sofort aus der Hand und fiel zu Boden. Madeleine schüttelte den Kopf. »Das könnte ich nie!«, sagte sie resigniert.
»O doch. Du musst nur üben! Lange üben …«, erwiderte Gas pard, der den Ball aufhob und ihn wieder in seinen Kasten packte. Augenzwinkernd ging er weiter zu seinem Zelt.
Madeleine griff nach der Schüssel, in der sich Beeren, Gras, Wurzeln und die wenig appetitlichen Reste eines Fisches befanden, die als Abendmahlzeit für den Bären bestimmt waren. Ihre Arbeit begann, wenn die anderen fertig waren. Sie fütterte und tränkte die Tiere, holte Wasser und half bei den Küchenarbeiten. Am Abend tat ihr jeder Knochen weh, doch die
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