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Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Titel: Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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das Tuch abnahm. »Ich wollte die Wunde nur etwas säubern«, erklärte die Frau.
    Madeleine betrachtete ihren Arm, auf dem sich eine unschöne tiefe Fleischwunde mit scharfen Ausläufern zeigte, die sich entzündet hatte.
    »Ihr solltet das lieber mit einem Sud abtupfen«, sagte sie mit einem Blick auf das schmutzige Tuch.
    »Wie soll ich das denn mit dem Arm machen?«, erwiderte die Frau abwehrend. Sie versuchte aufzustehen. Madeleine stützte sie und half ihr die Böschung hoch.
    »Thérèse?« Ein drahtig gebauter Mann in den Vierzigern kam auf sie zugelaufen. »Was um Gottes willen machst du denn da?«, fragte er ungehalten.
    »Na was wohl, Gaspard? Ich wollte die Wunde säubern!«, gab die Frau barsch zurück.
    »Ihr solltet Euch einen Umschlag aus Frauenmantel und Ringel blumen auflegen. Wenn die Wunde sich weiter entzündet, könntet Ihr sonst sehr krank werden«, sagte Madeleine erneut im ernsten Ton zu ihr.
    Der Mann wandte sich mit undurchdringlicher Miene zu ihr. Seine kohlrabenschwarzen Augen schienen sie zu durchbohren. »Und wer bist du? Etwa eine Heilerin?«, fragte er.
    Madeleine verneinte. Sein Ton ließ sie ahnen, dass er das Oberhaupt der Truppe sein musste. »Bin ich nicht, aber meine Mutter hat für einen Apotheker gearbeitet …«
    »Sie ist in Ordnung, Gaspard!«, mischte sich eine Stimme hinter ihnen ein, die Madeleine vertraut vorkam. Es war Rémi. Anscheinend hatte sich seine Angst vor Margaux gelegt, denn er kam in aller Seelenruhe zu ihnen geschlendert.
    »Ich habe sie gefragt, ob sie einige Tage mit uns ziehen will. Sie könnte für Thérèse einspringen«, erklärte der Zwerg.
    Madeleine spürte, wie Gaspard sie erneut ansah – sein Blick wanderte von ihr zu Thérèse. »Ich weiß nicht, wir kriegen so schon kaum alle Mäuler satt …«
    »Es geht auch gar nicht«, beeilte sich Madeleine zu erklären. »Ich muss wirklich, so schnell es geht, nach Orléans!«
    »Ich würde es auch gut finden.« Eine Hand fasste sie am Arm. »Bitte!«, sagte Thérèse. Madeleine wandte den Kopf zu ihr. Etwas Flehentliches lag in ihren Augen, gegen das sie sich zu wehren ver suchte. Doch sie erkannte, wie erschöpft und müde Thérèse wirkte. Ihr Gesicht war unnatürlich blass. Ihre Wunde musste versorgt werden. Unsere Sorge um die Kranken muss stets vor unser eigenes Wohl gehen. Wusste der Himmel, warum sie jetzt auch noch gerade Schwester Philippas Stimme in Gedanken hören konnte!
    »Wärst du denn bereit dazu?«, fragte Gaspard skeptisch.
    Madeleine dachte an die Männer des Herzogs, an die Gefahr, in der sie sich befand. Andererseits würde sie heute ohnehin nicht mehr weit kommen und bei den Gauklern für heute Nacht vermutlich in Sicherheit sein.
    »Gut«, sagte sie schließlich widerstrebend. Rémi lächelte zufrieden.
    »Aber nur bis morgen!«, fügte sie hinzu.

29
    D er Herzog d’Aumale betrachtete grübelnd das graue Gewand in seinen Händen. Der fadenscheinige Stoff war zerknittert und am Rock und dem Saum der Ärmel feucht und mit Schlamm verschmiert. Seine Männer hatten das Kleid unten in dem Schacht gefunden, der in der Felsspalte am Abhang des Waldes wieder nach draußen führte. Sie musste also etwas anderes zum Anziehen dabei gehabt haben, was dafür sprach, dass sie ihre Flucht geplant hatte.
    Der Herzog zerknüllte mit grimmiger Miene den Stoff. Einer seiner Männer hatte sich schwer verletzt, als er ihren Weg aus dem Schacht nachgeklettert war und auf den steinernen Vorsprüngen abgerutscht und in die Tiefe gestürzt war. Ein Wunder, wie das Mädchen es geschafft hatte! Ihre Spuren hatten vom Schacht weiter in den Wald geführt. Fast eine halbe Meile hatte man ihren Fußabdrücken folgen können. Sie war westwärts gelaufen und hatte Haken wie ein Hase geschlagen, der gejagt wurde. Irgendwann verlor sich ihre Spur dann jedoch leider im Dickicht.
    Aumale warf das Kleid zurück auf den Tisch des Wirtshauses, in dem er mit seinen Männern vorerst Quartier bezogen hatte.
    Man musste seine Feinde kennen, um sie zu besiegen. Das hatte er aus eigener Erfahrung gelernt. Erneut fragte er sich daher, was er selbst tun würde, wenn er in der Haut des Mädchens steckte. Er würde alles daransetzen, um so schnell wie möglich aus dem Herrschaftsgebiet der Champagne zu fliehen, überlegte er. Das bedeutete, sich nach Sens und dann entweder weiter nach Orléans oder aber in Richtung Paris durchzuschlagen. Letzteres war davon abhängig, ob das Mädchen irgendwo Unterstützung zu erwarten hatte.

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