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Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Titel: Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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dachte gar nicht daran, sondern lachte nur.
    »Du sollst mich loslassen!«
    Voller Entsetzen spürte sie, wie er sie noch enger an sich zog, als er völlig unvermittelt einen heulenden Schrei ausstieß. »Ahh, verdammt …« Er hatte von ihr abgelassen und starrte ungläubig nach unten zu seinem Bein, neben dem Rémi stand. Der Abdruck zweier Zahnreihen zeichnete sich in seiner Wade ab.
    »Ich bring dich um, du widerliche Missgeburt!«, brüllte er und schlug wie wild nach ihm.
    Rémi wich geschickt aus. Lucs Wut schien ihn nicht besonders zu beeindrucken.
    »Wenn du nicht aufhörst, erzähle ich es Margaux!«, drohte der Zwerg.
    Der Bärenführer hielt abrupt inne. »Das wirst du nicht wagen!«
    Rémi zuckte die Achseln. »Täusch dich nicht!«
    Luc sah ihn hasserfüllt an. »Ich werde dafür sorgen, dass man dich verkauft!«, sagte er kalt, bevor er sich abwandte und davon machte.
    Madeleine atmete erleichtert auf. Sie konnte noch immer den schmerzhaften Druck seiner Finger auf ihrem Arm fühlen und wollte sich lieber nicht vorstellen, was hätte geschehen können, wenn Rémi nicht aufgetaucht wäre. »Danke!«, sagte sie zu ihm.
    »Ach!« Der Zwerg machte eine abwehrende Handbewegung. »Nimm dich vor ihm in Acht, wenn er getrunken hat.« Seine braunen Augen funkelten verschmitzt. »Mir scheint, dass man auf dich aufpassen muss …«
    Der Anflug eines Lächelns huschte über ihr Gesicht, doch dann wurde sie wieder ernst. »Was meinte er damit, er wird dafür sorgen, dass man dich verkauft?«
    Sie waren einige Schritte weitergegangen und hatten sich hinter den Wagen neben den Pferden ins hohe Gras sinken lassen.
    »Damit drohen sie mir, seitdem ich weggelaufen bin. Aber ich bringe ihnen viel zu viel Geld ein!«, erwiderte er selbstbewusst.
    Madeleine wandte ihm nachdenklich den Kopf zu. Er hatte ihr einmal erklärt, dass er in gewisser Weise so etwas wie der Leibeigene von Margaux war, bis er das Geld, das sie für ihn bezahlt hatte, wieder verdient hätte. Für die Wahrsagerin schien er dagegen so etwas wie ein Schoßhündchen zu sein – sie war launisch und schlug ihn manchmal, dann wieder herzte sie ihn und wollte sich vor Lachen über seine Späße gar nicht wieder beruhigen. Immerhin hatte sie seit ihrem Auftauchen in der Truppe davon abgesehen, den Zwerg nachts weiter festzumachen, dachte Made leine. Sie fühlte sich in seltsamer Weise mit ihm verbunden. Rémi stammte ursprünglich aus Polen, hatte er ihr erzählt. Seine Mutter war dort von einem Grafen als Spielgefährtin für dessen Tochter in die Dienste genommen worden. Er selbst war schon als Kind verschenkt worden. Bei den Gauklern war er seit drei Jahren.
    »Weißt du, ich werde hier verschwinden und wirklich an den Hof des Königs gehen. Sobald wir Orléans verlassen haben«, verkündete Rémi unvermittelt. Er hatte die Arme hinter den Kopf verschränkt und sich nach hinten gelehnt. »Am Hof gibt es richtige Ämter für Zwerge. Wusstest du das?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein!«, sagte sie. Ein bisschen beneidete sie ihn darum, dass er Pläne und Träume für die Zukunft hatte.
    »Was ist mit dir? Was wirst du in Orléans machen?«, fragte er neugierig.
    Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Ich will erst einmal nur dort ankommen«, erwiderte sie wahrheitsgemäß und verspürte angesichts seines prüfenden Blicks ein schlechtes Gewissen. Sie hätte ihm gerne alles erzählt.
    Plötzlich erstarrte sie. Sie war überzeugt, vor ihnen am Waldrand eine Bewegung gesehen zu haben. In einiger Entfernung schienen sich in der hereinbrechenden Dunkelheit die Umrisse eines Reiters abzuzeichnen. Sie fuhr hoch.
    »Was hast du?«, fragte Rémi.
    »Nichts!«, antwortete sie tonlos. Die Umrisse waren nicht mehr zu sehen. Hatte sie sich nur getäuscht? Doch sie fühlte, wie ihr Herz noch immer schneller schlug.

31
    I n dieser Nacht hatte sie das erste Mal den Traum. Sie rannte durch eine Stadt mit hohen Häusern, über deren Dächer sich im Mondlicht die Türme und Kreuze von Kirchen und Kathedralen erhoben. Ein Meer aus Stein, das ihr die Sicht in die Ferne versperrte. Sie hatte Angst, schreckliche Angst, denn überall war Blut. Leichen pflasterten die Straßen, und egal wohin sie blickte, kämpften Männer erbittert und wie im Rausch gegeneinander. Das Geräusch klirrender Degen vermischte sich mit den Schreien und dem Stöhnen der sterbenden Verwundeten. Und sie rannte weiter, getrieben und voller Schuldgefühle, weil sie es nicht verhindert hatte

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