Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
…
Schweißgebadet fuhr Madeleine auf ihrem Strohlager aus dem Schlaf. Ihr Atem raste, als wäre sie tatsächlich gerannt, und sie brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass sie nur geträumt hatte. Erschöpft strich sie sich die Haare aus dem Gesicht. Der zögerliche orangefarbene Schimmer, der durch den dunklen Himmel brach, kündigte gerade die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne an, doch sie war hellwach. Dabei hatten die Glocken wahrscheinlich noch nicht einmal die fünfte Stunde geschlagen. Sie zog die schmutzige Wolldecke enger um ihre Schultern. Der Traum hatte ein verstörendes Gefühl hinterlassen. Es schien ihr, als könnte sie den Geruch von Angst und Schweiß noch immer wahrnehmen. Unwillkürlich griff sie nach dem Anhänger ihrer Kette. Der von ihrer Haut gewärmte Stein übte eine beruhigende Wirkung auf sie aus. Es war nur ein Traum, versuchte sie sich zu sagen.
Da an Schlaf nicht mehr zu denken war, erhob sie sich von ihrem Strohlager. Vielleicht konnte sie die Eindrücke abschütteln, wenn sie aufstand und etwas trank. Leise schlich sie sich an den Zelten vorbei zum Versorgungskarren, in dem sich die Kochutensilien und Lebensmittel befanden. Sie ging zu einem der beiden Wassereimer, die sie selbst am Abend vom Fluss zum Lager geschleppt hatte, und ergriff die Schöpfkelle, um sich einen verbeulten Zinnbecher mit Wasser zu füllen.
Nachdenklich trank sie einen Schluck. Die friedliche Ruhe der Morgendämmerung ließ ihre Nerven etwas zur Ruhe kommen. In den wenigen Momenten, in denen sie nicht von ihrer Angst beherrscht wurde, die Männer des Herzogs d’Aumale könnten sie finden oder sie könnte erneut irgendetwas Schreckliches vorhersehen, fragte sie sich manchmal, wer sie wirklich war. Warum konnte sie diese Dinge sehen? Worin lag der Sinn davon? Prüfte Gott sie damit? War es, wie die Äbtissin gesagt hatte, nur eine Versuchung, der sie widerstehen musste? Ihre Finger fuhren fahrig über den Becher. Warum aber hatte sie dann das Gefühl, dass es falsch war, nichts zu tun und nicht einzugreifen? Hätte sie zusehen sollen, wie die Männer getötet wurden? Keiner kann wis sen, was geschehen wird , hatte die Äbtissin gesagt. Doch Madeleine wusste, dass das nicht stimmte. Der Unfall von Françoise – sie hatte ihn genau so gesehen, wie er sich dann ereignet hatte, und sie war sich sicher, auch die Männer im Wirtshaus wären alle getötet worden, hätte sie sie nicht gewarnt. Ihre Hände spannten sich um den Becher. Wie sehr wünschte sie sich, nicht so zu sein, diese Dinge nicht zu sehen.
Sie trank einen weiteren Schluck Wasser und musste mit einem Mal an ihre Mutter denken. Seit ihrem Tod fühlte sie sich jeder Wurzel beraubt. Als sie noch lebte, hatte sie sich nie Gedanken gemacht, woher ihre Familie kam, aber nun hatte sie so viele Fragen. Sie wünschte, ihre Mutter hätte mehr darüber erzählt, warum sie damals, nach dem Tod ihres Vaters, mit ihr nach Frank reich gegangen war. Madeleine erinnerte sich an etwas, das die Äbtissin in ihrem letzten Gespräch gesagt hatte, kurz bevor sie geflohen war. Madeleine – deine Mutter, sie hat geahnt, was mit dir ist. Deshalb wollte sie, dass du nach ihrem Tod hierher nach St. Angela kommst. Ungläubig hatte Madeleine die Äbtissin angesehen. Aber sie hat immer behauptet, ich würde mir diese Dinge einbilden!
W eil sie dich schützen wollte …
Aber sie hatte sie nicht schützen können, dachte Madeleine. Sie hatte aus dem Kloster fliehen müssen und wusste nun nicht, was mit ihrem Leben geschehen würde. Sie würde nach Orléans gehen, zu Menschen, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Protestanten, die ihr Unterstützung anboten, weil sie ihrem Anführer das Leben gerettet hatte. Ketzer, wegen denen das Land im Krieg gestanden hatte, das war die Wahrheit. Madeleine dachte an die Münzen, die sich in dem Ziegenlederbeutel befanden. Sie hatte sie bisher nicht angerührt. Bei dem Gedanken an das Geld fühlte sie sich schuldig. Als hätte man sie dafür bezahlt, dass sie das Attentat verhindert hatte. Versuche Gott und deinem Glauben treu zu bleiben , hatte Schwester Philippa leise zum Abschied gesagt. Das wollte Madeleine. Doch sie fragte sich, wie die Hugenotten wohl reagieren würden, wenn eine Katholikin vor ihnen stand, die um ihre Hilfe bat.
Das Geräusch von Schritten riss sie aus ihren Gedanken. Sie erkannte die üppige Gestalt von Margaux, die mit einem herzhaften Gähnen auf sie zukam. Ihre Haare hingen wirr an ihr herunter, und
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