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Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Titel: Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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körperliche Anstrengung ließ sie die ständige Angst, die Männer des Herzogs könnten sie doch noch aufspüren, zumindest für einige Stunden vergessen.
    Den Gauklern gegenüber hatte sie behauptet, dass sie nach dem Tod ihrer Mutter auf dem Weg zu einer Tante sei, die in Orléans lebe. Es hatte sie nicht sonderlich interessiert. Neben Gaspard, Thérèse und Rémi gehörte zu der Truppe noch Luc, der Bärenführer, ein verschlossen wirkender Mann Anfang dreißig. Er war mit Margaux, der Wahrsagerin, liiert.
    Das Leben der Truppe war ärmlich – sie lebten von dem, was ihnen die Natur bot, und von den wenigen Münzen, die die Leute ihnen auf der Straße für ihre Vorführungen gaben. Sie waren Außenseiter. Auch wenn man ihren Darbietungen mit Begeisterung zusah und über sie lachte, begegnete man ihnen stets mit Distanz. Vielleicht fühlte sich Madeleine gerade deshalb unter ihnen wohl. Bei den meisten Menschen galt das Gewerbe der Gaukler als an rüchig und unchristlich, und das unstete, vagabundierende Leben, das sie führten, tat sein Übriges dazu, dass die Leute ihnen nicht trauten. Letzteres allerdings nicht ganz zu Unrecht, musste Madeleine zugeben, denn sie hatte mitbekommen, dass Gaspard die Kunst seiner Taschenspielertricks regelmäßig dazu benutzte, dem Publikum einige Münzen mehr zu entwenden, als dieses bereit war zu geben. Es überraschte sie daher nicht, dass die Truppe des Öfteren den einen oder anderen zusätzlichen Umweg in Kauf nahm, um ja keinen Vertretern der Obrigkeiten zu begegnen. Mit einem leisen Schreck erinnerte Madeleine sich daran, dass ihnen das gestern fast nicht gelungen war. Sie waren querfeldein unterwegs zu einem Dorf gewesen, als sie am Horizont plötzlich die Umrisse berittener Soldaten erkannt hatten, die ihnen entgegenkamen. Eilig und voller Angst, es könnte sich um die Schergen der Guise handeln, hatte Madeleine sich, einen Vorwand murmelnd, unter die Plane in einen der Fuhrwagen geflüchtet. Auch die Gaukler hatten merklich angespannt gewirkt, doch dann hatten sich die Soldaten zu ihrer aller Erleichterung mit einem Mal in Richtung des Flusses entfernt. Madeleine war froh, dass später keiner ein Wort über ihr seltsames Verhalten verloren hatte.
    Während sie in der Abenddämmerung mit der Schüssel weiter zu dem Käfig des Bären ging, sah sie, dass vor Margaux’ verschlissenem, löchrigem Zelt noch immer einige Leute Schlange standen. Die Dienste der Wahrsagerin waren begehrt und die einzige Einnahmequelle, auf die die Truppe sich stets verlassen konnte. Rémi behauptete, dass sie die Dinge, die sie den Leuten erzählte, erfand, doch angesichts ihrer eigenen Erfahrungen war Madeleine sich nicht sicher, ob er damit recht hatte. Margaux war ihr unheimlich, und sie merkte, dass die Wahrsagerin sie manchmal beobachtete, als würde sie ahnen, dass sie etwas verbarg.
    Nachdenklich ging Madeleine weiter zu Giacomo, dem Bären. Das Tier presste bereits ungeduldig seine Nase gegen die Gitterstäbe, als sie auf ihn zukam.
    »Na, bist du hungrig?«
    Sie schob vorsichtig das kleine Fallgitter des Käfigs hoch und widerstand der Versuchung, ihn zu streicheln. Obwohl er sich ihr gegenüber immer sanftmütig zeigte, wusste sie nicht zuletzt von Thérèses Verletzung her, dass er unberechenbar war. Man konnte es ihm nicht übel nehmen, dachte sie, während er sich mit Inbrunst über sein Fressen hermachte. Es war bestimmt kein Vergnügen, an einem Ring in der Nase durch die Gegend gezogen und dabei auch noch mit der Peitsche drangsaliert zu werden.
    »Na, leistest du meinem Bären Gesellschaft?«, ertönte unerwartet eine Stimme hinter ihr.
    Sie fuhr herum.
    Es war Luc. Er pulte mit dem Zeigefinger zwischen den Zähnen und musterte sie.
    »Ich habe ihm nur sein Fressen gebracht«, erwiderte sie. Luc war der Einzige der Truppe, mit dem sie noch fast kein Wort gesprochen hatte.
    »Das ist nett von dir!«, sagte er sarkastisch. Er war einen Schritt auf sie zugekommen, und sie bemerkte, dass sein Hemd über der abgetragenen Kniebundhose bis zur Mitte der Brust offen war. Er roch nach Schweiß.
    »Ich muss zurück – ich habe noch zu tun.« Sie wollte an ihm vorbei, doch er griff nach ihrem Arm.
    Ihr Blick heftete sich auf seine gegerbten Hände, deren Finger und Nägel vor Dreck starrten, und sie versuchte, sich loszureißen. Im selben Augenblick packte er sie jedoch und zog sie mit unerwarteter Kraft an sich.
    »Lass mich los!« Sie stemmte sich aufgebracht gegen ihn.
    Doch er

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