Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
ihr Mieder war nur halb geschlossen. Wie Madeleine trug sie ihre Wolldecke um die Schultern. Sie musterte sie wortlos, griff nach der Schöpfkelle am Eimer, die sie ins Wasser tauchte, und trank direkt daraus einen Schluck. Dann fuhr sie sich mit dem Handrücken über den Mund.
»Schlecht geträumt?«, fragte sie, während sie sich die Finger an ihrem Rock trocken wischte.
»Ja!«, erwiderte Madeleine wahrheitsgemäß.
Margaux trank mit einem hörbaren Geräusch einen weiteren Schluck und deutete auf ihre Hand. »Wenn du willst, verrate ich dir etwas über deine Zukunft!«
»Danke, nein!« Madeleine schüttelte den Kopf. Ein gereiztes Lachen drohte ihren Lippen zu entschlüpfen. Das Letzte, was sie wollte, war, sich irgendetwas weissagen zu lassen.
»Du musst mir nichts geben. Ich mache es umsonst«, meinte Margaux gönnerhaft, die ihre Reaktion missverstand und schon nach ihrer Hand greifen wollte.
Madeleine zog sie eilig zurück. »Nein, danke!« Ihre Stimme klang schärfer, als sie gewollt hatte. »Tut mir leid«, fügte sie, um einen freundlicheren Tonfall bemüht, hinzu. »Aber ich interessiere mich nicht für solche Dinge! … Kannst du wirklich die Zukunft sehen?«, fragte sie dann neugierig.
Margaux zog die Augenbrauen hoch. »Klar, glaubst du vielleicht, ich lüge?«
»Nein, ich dachte nur …«, erwiderte Madeleine, »ich meine, es ist doch nicht ungewöhnlich, so etwas zu können, oder?«, schloss sie schließlich angesichts ihrer eigenen Erlebnisse.
Margaux blickte sie verwundert an. »Ungewöhnlich?« Sie zuck te die Achseln und nahm schlürfend noch einen Schluck von dem Wasser. »Ich sehe nicht immer was«, erklärte sie. »Manchmal brauche ich auch Hilfsmittel oder verlasse mich einfach nur auf meine Intuition.«
Madeleine dachte an ihre eigenen Visionen. »Macht es dir keine Angst, in die Zukunft zu blicken?«, fragte sie ehrlich.
Die Wahrsagerin stieß ein raues Lachen aus. »Angst? Bei Gott, nein. Ich liebe es!« Sie beugte sich zu ihr. »Es gibt dir Macht über die Menschen. Sie sind verrückt danach, etwas über ihr Leben zu erfahren, und wenn es noch so armselige Dinge sind!«, sagte sie. Ihr Blick blieb an Madeleines Dekolleté hängen. »Wo hast du das her?«, fragte sie plötzlich.
Madeleine sah an sich herunter und bemerkte, dass die Kette, die sie sonst immer gut verborgen hielt, über dem Ausschnitt ihres Kleides hing. Das Orange des Steins reflektierte die Strahlen der aufgehenden Sonne.
»Die Kette? Sie hat meiner Mutter gehört.«
»Deiner Mutter?«, erwiderte Margaux in einem Ton, als würde sie ihr kein Wort glauben.
»Ja!«, bekräftigte Madeleine.
Ein kalter Zug zeigte sich auf dem Gesicht der Wahrsagerin. »Tatsächlich? … Wo wir beide hier schon mal stehen, warum sagst du mir nicht, warum du eigentlich nach Orléans willst?«
Madeleine schaute sie verunsichert an. Das Gespräch nahm eine Wendung, die ihr nicht gefiel, und sie hatte aus unerfindlichen Gründen das Gefühl, dass der Auslöser ihre Kette war. War der Stein vielleicht doch wertvoller, als sie ursprünglich vermutet hatte?
»Aber das habe ich doch erzählt. Weil meine Tante dort lebt!«
Margaux lachte verächtlich auf. »Diese Geschichte habe ich dir von Anfang an nicht geglaubt! Und weißt du, warum?« Sie beugte sich zu ihr. »Weil ich spüre, dass du Angst hast. Die ganze Zeit – sosehr du dich auch bemühst, es zu verstecken. Deshalb willst du auch nicht, dass ich in deiner Hand lese!«
Madeleine erstarrte.
Margaux hatte die Arme verschränkt. »Im Übrigen ist es mir egal, was du getan hast oder was man dir vorwirft. Wir haben alle unsere eigene Geschichte, aber glaub nicht, dass ich mich von dir in deine Schwierigkeiten mit hineinziehen lasse!«
Madeleine wurde blass. »Was meinst du damit?«
Margaux’ Augen waren erneut an dem Anhänger hängen geblieben. »Gestern war ein Mann hier. Er hat nach einer jungen Frau gesucht, deren Beschreibung ziemlich genau auf dich passte.«
Madeleine wurde bleich. »Hast du ihm von mir erzählt?«, fragte sie rau.
Die Wahrsagerin schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht«, erwiderte sie vernichtend. Sie wollte sich schon abwenden, doch schließlich drehte sie sich noch einmal zu Madeleine um. »Und gib dir keine Mühe, mir länger etwas vorzumachen. Ich glaube dir nicht, dass du nicht weißt, was das für ein Stein ist, den du da um den Hals trägst!«, sagte sie und ging ohne ein weiteres Wort fort.
32
I hrem ersten Impuls folgend wäre Madeleine
Weitere Kostenlose Bücher