Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
Wetters nicht einmal Schuhe. Madeleine wurde bewusst, dass die meisten von ihnen wahrscheinlich noch weniger besaßen als sie. Ein Anflug von Mit leid ergriff sie. Dann blieb ihr Blick an einem Mann hängen, der etwas abseits stand und seinen Hut tief ins Gesicht gezogen hatte.
»Hier wird nicht viel zu holen sein! Vielleicht wird man uns wenigstens etwas Brot und ein paar Eier geben können«, sagte Rémi bedauernd, der die gleichen Gedanken zu haben schien.
Madeleine nickte. Ganz offensichtlich waren die Ernten, wie überall im Land, auch in dieser Gegend schlecht ausgefallen. Sie sah, dass Gaspard gerade sein Jonglierspiel beendet hatte, und betrachtete wieder die begeisterte Menge.
Nach den Tagen in der Einsamkeit waren ihre Sinne doppelt geschärft, und vielleicht fielen ihr nur deshalb die beiden Männer auf. Deren Aufmerksamkeit war nicht auf die Darstellung des Gauklers gerichtet, sondern sie schauten sich suchend um. Der eine von ihnen hatte eine große, auffallend vernarbte Nase. Obwohl die beiden Männer einfach gekleidet waren, wirkten sie wohlgenährt, und man sah ihren Gesichtern – den gestutzten Bärten und halblangen Haaren, die ihnen bis auf die Schulter fielen – an, dass sie nicht aus dem Dorf stammten. Madeleine erschrak und wich unwillkürlich einen Schritt hinter den Karren zurück.
Rémi schaute sie an. »Was hast du?« Doch Madeleine brachte keinen Ton hervor, denn sie bemerkte, dass einer der beiden Männer auf Gaspard zugegangen war und ihn etwas fragte, während der andere sich noch immer suchend umschaute. Sie musste an den Unbekannten denken, der bei Margaux nach ihr gefragt hatte. War er mit Verstärkung zurückgekehrt?
Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und sie wusste plötzlich sicher, dass die beiden ihretwegen gekommen waren. »O Gott, nein!«, sagte sie leise zu Rémi. Die Furcht in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
Der Zwerg sah von den Männern zu ihr. »Was ist?«
»Die Männer, ich glaube, sie sind wegen mir hier!« Ihr Gesicht war leichenblass, während sie noch immer bewegungslos dastand und beobachtete, wie der andere Mann nun ebenfalls auf Gaspard zuging.
»Wegen dir?«, fragte Rémi. Auch er bemerkte nun, wie die drei miteinander sprachen und dann plötzlich die Köpfe in ihre Richtung wandten.
Madeleine wich voller Angst ganz hinter den Karren zurück.
Rémi blickte sie an – auch ohne viele Worte schien er mit einem Mal zu begreifen, in welcher Gefahr sie sich befand.
»Geh, schnell«, sagte er leise. »Ich werde sie ablenken!«
Sie schaute ihn an. Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und rannte – zwischen den Fuhrwagen durch und an den Tieren vorbei und weiter auf der Rückseite des Platzes in eine schmale, von Häusern gesäumte Gasse hinein.
Nur wenige Augenblicke später konnte sie hinter sich einen ohrenbetäubenden Lärm und lautes Geschrei, gefolgt von dem Brüllen eines Bären, hören und ahnte, dass Rémi sein Vorhaben in die Tat umgesetzt hatte. Nie würde sie ihm das vergessen.
Ohne sich umzudrehen, rannte sie weiter. Eine alte Frau schaute sie erschrocken an, als sie an ihr vorbeistob.
Doch Madeleine lief weiter, so schnell sie konnte, die Gasse entlang bis zu einem Weg, der aus dem Dorf hinausführte. Ihre Lungen brannten, als sie endlich den Wald erreichte.
Im Schutze der alten Eichen und Kastanienbäume, die den Weg säumten, verlangsamte sie außer Atem ihren Schritt. Hier würde sie vor Blicken geschützt sein. Sie blieb keuchend stehen, da konnte sie hinter sich plötzlich den Hufschlag eines Pferdes hören. Panisch drehte sie sich um und flüchtete dann zwischen die Bäume, in das dahinterliegende Gebüsch. Zweige und Äste schlugen ihr gegen die Hände und das Gesicht, doch sie hastete weiter, bis sie sicher war, dass man sie vom Weg aus nicht mehr sehen konnte.
Der Hufschlag war indessen lauter geworden – das Pferd konnte nicht mehr weit entfernt sein. Mit angehaltenem Atem ging Madeleine in die Knie und schickte ein stummes Stoßgebet gen Himmel. Einen Augenblick später sah sie, wie ein Reiter mit wehendem Umhang an ihr vorüberritt. Er war allein. Sie hätte durch das Dickicht hindurch nicht sagen können, ob es einer der Männer war, die sie auf dem Platz gesehen hatte.
Madeleine wartete mit klopfendem Herzen, bis sie ihn nicht mehr hören konnte, dann stand sie auf und schlug sich durch die Büsche zurück zum Weg. Ihre Hände und ihr Gesicht waren zerkratzt, doch sie nahm den Schmerz kaum wahr, sondern bemühte
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