Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
oder?«
Er hatte einen Schluck Wein getrunken. »Ja. Gegen den spanischen König und seine Schwester, Margarète de Parma, die Statthalterin.« Er stellte den Tonkrug neben sich ab und fuhr sich über den Mund. »In den letzten Jahren ist man dort gegen unsereins ziemlich hart vorgegangen«, erzählte er, und Madeleine ahnte, dass er mit unsereins die niederländischen Protestanten mein te. »Verhaftungen, Hinrichtungen …« Er brach ab, und sein Blick verdunkelte sich, als würden die Bilder dieser Vorkommnisse wieder vor ihm aufsteigen. Den Bruchteil eines Moments zeigte sich ein schmerzerfüllter Ausdruck in seinen Augen, der jedoch genauso schnell wieder verschwunden war. »Unser Adel hat dagegen schließlich protestiert und mehr Macht an der Regierung gefordert. Erst sah es auch so aus, als würden Margarète und der spanische König einlenken …«, berichtete er verächtlich. »Aber sie haben gelogen. Wir wissen inzwischen, dass von Spanien aus eine Armee unterwegs ist. Einige unserer Leute wurden bereits verhaftet. Uns hat man rechtzeitig gewarnt. Deshalb sind wir geflohen!«
Madeleine sah ihn betroffen an. Ihr ging auf, wie wenig sie von diesen politischen Zusammenhängen wusste. Im Kloster hatte sie nur von der Zerstörung der Heiligenbilder und Marienstatuen durch die niederländischen Protestanten gehört. »Das tut mir leid«, sagte sie ehrlich.
Er schüttelte den Kopf. »Aber nein. Wir werden uns zur Wehr setzen und kämpfen!« In seinen Augen glomm ein heroisches Leuchten auf. Er ballte die Faust und trank noch einen Schluck.
Madeleine schwieg. Krieg! Überall schien es nur Krieg zu geben. Sie dachte daran, dass man auch in Frankreich ständig davon sprach, dass es erneut Kämpfe geben würde.
»Und was ist mit dir?«, fragte er schließlich. »Was machst du hier? Wie heißt du überhaupt?«
»Madeleine …«, stellte sie sich vor.
»Willem«, unterbrach sie der Ruf einer Stimme. Im Stalleingang war eine Männergestalt aufgetaucht.
Der Junge blickte auf.
»Beeil dich, wir brauchen dich«, sagte der Mann, der in demselben fremdländischen Akzent wie Guillaume sprach.
Der junge Mann stellte hastig den Korb zur Seite und sprang auf die Beine. »Bis später!«, sagte er eilig und zwinkerte ihr im Weggehen noch einmal zu.
Madeleine blickte ihm nachdenklich hinterher. In gewisser Weise hatte es etwas Tröstliches, dachte sie, während sie sich erhob, dass auch die anderen nicht immer einfache Schicksale hat ten. Sie stand auf und packte den halb leeren Krug und die Essens reste zurück in den Korb, um ihn zurück in die Küche zu bringen.
Sie lief an den Pferden vorbei zum Ausgang, als sie unvermittelt ihren Schritt verlangsamte. Draußen vor dem Stall waren zwei Männerstimmen zu vernehmen. Die eine war ihr nur zu bekannt – sie gehörte Ronsard. Unwillkürlich blieb sie stehen. Sie hatte keine Lust, ihm zu begegnen. Vielleicht würde er mit seinem Begleiter einfach weitergehen, doch die beiden Männer blieben stehen.
»Könnt Ihr mir erklären, wieso Ihr sie um Gottes willen hierhergebracht habt?«, hörte sie eine tiefe Stimme fragen, die ihr irgendwie bekannt vorkam.
»Immerhin hat sie uns geholfen …«, erwiderte Ronsard.
»Aber wir haben keine Ahnung, wie und woher sie von dem Anschlag wissen konnte!«
Madeleine hielt erschrocken inne. Die beiden sprachen über sie! Jetzt erkannte sie auch die Stimme des anderen. Es war der Mann mit der Narbe, der mit Ronsard vor dem Wirtshaus gestanden hatte. Sie sah sein Gesicht deutlich vor sich.
»Sie behauptet, sie hätte die Leute der Guise vorher gesehen und gehört, wie sie über den Anschlag gesprochen hätten«, meinte Ronsard gelassen.
»Und das glaubt Ihr?«
»Warum sollte sie lügen? Und falls sie nicht die Wahrheit gesagt hat, werden wir es herausbekommen. Umso besser, wenn sie dann hier ist.«
Einen Moment lang herrschte draußen Stille.
»Ihr vergesst, dass sie Katholikin ist. Ich sage Euch, es war ein Fehler, sie hierherzubringen!«
Ihre Schritte entfernten sich.
Mit blassem Gesicht lehnte Madeleine sich gegen die Stallwand. Sie glaubten ihr nicht! Aber was hatte sie auch erwartet? Es klang mehr als unwahrscheinlich, dass sie durch einen Zufall von dem Anschlag gehört haben sollte. Ein entmutigendes Gefühl überkam sie. Was sollte sie tun? Sie hätte gar nicht hierherkommen dürfen, dachte sie. Aber welche Wahl hatte sie sonst gehabt?
Sie atmete tief durch und lauschte wieder nach draußen – es war nichts mehr zu hören.
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