Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
letzten Satz wohl gemeint hatte. Er verzog die Stirn. Ihre Äußerung war genauso rätselhaft wie ihre gesamte Person. Es war nicht einmal ein paar Wochen her, dass er sie im L’Auberge das erste Mal gesehen hatte. Ein junges, ein wenig unsicher wirkendes Mädchen mit kastanienbraunen Haaren und großen blaugrauen Augen, das in dem Gewand einer Klosterschülerin wie verkleidet gewirkt hatte, so war damals sein Eindruck gewesen. Doch sie hatte sich seitdem stark verändert. Er war überrascht, wie sehr. Sie war weiblicher und erwachsen geworden, und man spürte, dass sie eine Last mit sich trug.
Vardes ging zurück über den Hof. Er musste zugeben, dass es etwas an ihr gab, das ihn berührte. Er erinnerte sich, wie sie bei dem Kampf im Wirtshaus wie gelähmt dagestanden hatte und er sie mit sich zu Boden gerissen hatte, als der Schuss fiel. Er sah ihr Gesicht mit den aufgerissenen Augen noch immer vor sich. Sie hatte nicht einmal aufgeschrien, sondern ihn nur angesehen, voller Entsetzen und gleichzeitig mit einem unerwartet verletzlichen Ausdruck, der gegen seinen Willen den Beschützer in ihm geweckt hatte. Er schüttelte unwillig den Kopf über seine eigenen Gedanken. Man konnte nicht einmal wissen, ob von ihr keine Gefahr ausging. Die Geschichte, wie sie angeblich von dem An schlag erfahren hatte, schien wenig glaubwürdig. Ganz zu schwei gen von den seltsamen Andeutungen, die sie ihm gegenüber gerade gemacht hatte. Er ging weiter auf das Herrenhaus zu. Es war offensichtlich, dass sie etwas verbarg, dachte er. Seine menschliche Erfahrung war groß genug, um zu erkennen, dass sie sich vor etwas fürchtete – und er war sich ziemlich sicher, dass es sich dabei nicht allein um die Guise handelte. Tief in Gedanken, hörte er plötzlich das Geräusch eines herangaloppierenden Pferdes.
Ein Reiter war mit wehendem Umhang in den Hof geprescht. Die Stiefel und Kleidung des Mannes waren verdreckt, und sein Gesicht, das von dunklen Haaren umrahmt wurde, zeigte ebenso wie das schweißnasse Fell des Tieres, dass er über Stunden keine Rast eingelegt hatte, um La Bonnée so schnell wie möglich zu erreichen. Erst jetzt erkannte Nicolas de Vardes das Gesicht des Reiters – es war einer ihrer Boten. Ein ungutes Gefühl ergriff ihn, als der Mann mit angespannter Miene auf ihn zugelaufen kam.
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N ur drei Sätze standen in dem Schreiben des Admirals de Coligny – sachlich formuliert und ohne eine Unterschrift:
Henri d’Anjou wurde zum Oberkommandeur der Truppen ernannt. Der Prinz de Condé hat am 10. Juli den Hof verlassen. Alle Vorbereitungen sind zu treffen. Wir erwarten Euer aller Anwesenheit.
Vardes, der sich in einen der Kabinettsräume zurückgezogen hatte, nachdem der Bote ihm den versiegelten Brief überreicht hatte, las die Zeilen ungläubig ein zweites Mal. Condé hatte den Hof verlassen? Mit ernster Miene ließ er sich auf einen der Schemel sinken. Die Knappheit der Botschaft konnte nicht über ihre schwerwiegende Bedeutung hinwegtäuschen. Alles, was sie in den letzten Monaten geglaubt hatten, erreicht zu haben, wurde damit infrage gestellt. Ihr Einvernehmen mit der Medici und dem König nach den jüngsten außenpolitischen Entwicklungen schien plötzlich nur noch ein trügerischer Schein. Er fragte sich, ob sie von Anfang an nur getäuscht worden waren. Im Frühjahr hatte der spanische König Philipp II. ein gewaltiges Heer in Bewegung gesetzt, das er nun direkt an der Grenze Frankreichs entlangführen wollte, um damit endgültig den Aufstand in den spanischen Niederlanden zu zerschlagen. Daraufhin hatte es am französischen Hof unter der Führung der Königinmutter mehrere geheime Treffen mit den Protestanten gegeben.
Die potenzielle Gefahr, die von der Armee des katholischen Spaniens ausging, hatte die Medici und die Hugenotten gleichermaßen alarmiert und zu einem neuen Einverständnis zwischen den Parteien geführt. Keiner von ihnen hatte die langen Jahre vergessen, in denen sich Frankreich mit Spanien im Krieg befunden hatte. Man war daher gemeinsam zu dem Entschluss gekommen, die Grenze mit sechstausend Schweizern verstärken zu lassen und im Norden ein Heer zusammenzuziehen, um die Spanier nicht in Versuchung zu führen und ihnen die Stirn bieten zu können. Das Kommando über diese Truppen hatte der Prinz de Condé erhalten sollen, doch nun hatte sich die Medici überraschend anders entschieden und ihren Lieblingssohn Henri d’Anjou – einen nicht einmal sechzehnjährigen Knaben – zum Kommandeur
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