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Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Titel: Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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Die Männer schienen weg zu sein. Vorsichtig trat sie aus dem Stallgebäude heraus, doch sie war kaum um die Ecke gelaufen, als sie gegen eine breite Männerbrust prallte.
    »Sieh einmal an. Also habe ich mich nicht getäuscht und richtig gesehen, dass jemand im Stall ist«, sagte eine tiefe, ein wenig raue Stimme.
    Als sie den Kopf hob, blickte sie in ein markantes Männergesicht, dessen graugrüne Augen sie erkannte, noch bevor sie die hellen Linien der Narbe auf seiner Wange wahrnahm.
    Sie nickte ihm kühl zu.
    Vardes schaute sie verwundert an. »Was machst du denn hier? Hast du etwa unser Gespräch belauscht?«, fragte er. Er musterte erst sie – und dann den Korb in ihrer Hand.
    »Ich war zufällig im Stall«, entgegnete sie und ärgerte sich, als sie merkte, dass sie dabei war, sich zu verteidigen. »Im Übrigen waren Eure Stimmen leider nicht zu überhören«, fügte sie mit zusammengepressten Lippen hinzu. Sie wollte an ihm vorbeigehen, doch er hielt sie am Arm fest.
    »Nicht so schnell. Für meine Begriffe tauchst du etwas zu oft zufällig auf! Warum hast du dich nicht bemerkbar gemacht?«, fragte er.
    Sie blickte ihn ungläubig an. Er war ein ganzes Stück größer als sie und hatte etwas Respekteinflößendes, doch angesichts des Misstrauens, das in seiner Stimme schwang, spürte sie mit einem Mal, wie sich die Angst, die sie die ganze Zeit beherrschte, in Wut verwandelte.
    »Dasselbe könnte ich Euch fragen. Warum habt Ihr Euch nicht bemerkbar gemacht, wenn Ihr wusstet, dass ich dort war?«
    Ihr aufgebrachter Ton schien ihn zu überraschen. Er ließ ihren Arm los. »Ich habe nur einen Schatten gesehen!«, erwiderte er gelassen und lehnte sich mit der Schulter gegen die Stallwand. Er deutete auf die Holzplanken, zwischen denen an einer Stelle in der Tat ein schmaler Spalt klaffte.
    Einen Moment lang taxierte er sie. »Du hättest nicht hierherkommen sollen!«, sagte er dann. Es klang beinah freundlich, wie er das sagte, und vielleicht war es gerade dieser Unterton, der sie außer Fassung brachte.
    Ihre Augen blitzten. »Vielen Dank für Euren Rat! Glaubt Ihr etwa, dass ich gerne hier bin? Dass ich es schön finde zu wissen, dass ich nie wieder zu meinem alten Leben zurückkehren kann? Ihr irrt Euch. Wenn ich eine Wahl hätte, würde ich sofort wieder verschwinden«, fuhr sie ihn an.
    Offensichtlich hatte er nicht mit der Heftigkeit ihrer Reaktion gerechnet. »So meinte ich es nicht«, gab er schließlich zur Antwort. »Aber du bist da in etwas hineingeraten, aus dem du dich lieber rausgehalten hättest!«
    »Tatsächlich?«, sagte sie gereizt. »Ihr meint, ich hätte lieber zusehen sollen, wie man Euch alle umbringt?«
    Er lächelte leicht. »Woher willst du wissen, dass es dazu gekommen wäre? Du unterschätzt uns. Wir sind gute Kämpfer!«
    Sie schwieg. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass er in ihrer Vorahnung von dem Anschlag tatsächlich nicht unter den Toten gewesen war. Ihr Blick blieb erneut an seiner breitschultrigen Gestalt hängen. Ihr fiel auf, dass die Narbe auf seiner Wange davon ablenkte, dass seine markanten Gesichtszüge durchaus attraktiv waren. Vielleicht hatte er recht, und er hätte wirklich überlebt, dachte sie. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, was geschehen wäre, wenn sie die Männer nicht gewarnt hätte. Ihr Leben wäre leichter gewesen, sie wäre noch immer in St. Angela und würde sich nicht auf der Flucht befinden. Trotzdem war sie sich sicher, dass alles andere genau so eingetroffen wäre, wie sie es gesehen hatte. Ihre Augen verdunkelten sich, als sie wieder an die Toten dachte. Sie wünschte, sie hätte diese Bilder für immer aus ihrem Kopf verbannen können.
    »Ihr vielleicht, aber die anderen nicht …«, sagte sie schließlich und nahm erst jetzt wahr, dass er sie die ganze Zeit unverwandt angeblickt hatte.
    »Vielleicht solltest du mir das erklären!«, meinte er.
    Sie schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht. Ich verstehe es selbst nicht, aber Ihr könnt mir glauben, dass ich es weiß.«
    Sie wandte sich abrupt ab, weil sie das Gefühl hatte, ohnehin schon mehr gesagt zu haben, als gut war. Eilig lief sie über den Hof zurück zur Küche. Obwohl sie sich nicht umdrehte, konnte sie spüren, wie er ihr hinterherschaute, bis sie im Gebäude verschwunden war.

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    D ie Tür zur Küche war mit einem leisen Klacken ins Schloss gefallen. »Ich verstehe es selbst nicht, aber Ihr könnt mir glauben, dass ich es weiß.« Vardes fragte sich, was die junge Frau mit dem

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