Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
erinnert, die ihr mit derselben Überzeugung klarge macht hatte, dass Gott sie nur prüfte. Beide glaubten auf ihre Art und Weise mit einer Tiefe, um die Madeleine sie beneidete. Sie selbst fühlte sich dagegen von jeder göttlichen Führung verlassen. Oder sollte sie tatsächlich annehmen, dass es ihr bestimmt gewesen war, dem Admiral das Leben zu retten? Aufgewühlt stellte sie die Füße auf den Boden, erhob sich aus dem Bett und schob die Stoffbahnen aus gewebtem Brokat beiseite. Sie trat zu dem kleinen runden Tisch, der neben dem Fenster stand, und zog die schweren Vorhänge etwas auf. Draußen war es dunkel, aber der Mond warf einen schmalen hellen Schein in den Raum. Madeleine verspürte mit einem Mal den unbändigen Wunsch nach Freiheit und nach der Möglichkeit, alles hinter sich zu lassen. Wie gerne hätte sie einfach ihre Sachen genommen und wäre von hier verschwunden.
Sie beschloss, zumindest ihrer Sehnsucht nach frischer Luft nachzugeben und etwas nach draußen auf die Terrasse zu gehen. Leise, nur einen Umhang über die Schulter gelegt, huschte sie wenig später durch die Gänge des Schlosses. Als sie die untere Galerie erreichte, über die man zum Garten gelangte, hörte sie plötzlich auf der Terrasse Schritte und eine Stimme. Zögernd blieb sie stehen.
»Ja, Herr. Ihr könnt Euch auf mich verlassen. Ich werde den Brief auf dem schnellsten Weg nach Paris bringen«, ließ sich eine Männerstimme im gesenkten Ton vernehmen. Schritte entfernten sich, dann wurde schlagartig die Tür zur Galerie geöffnet.
Madeleine sah sich hastig um. Sie hatte nicht die geringste Lust, irgendjemandem zu erklären, warum sie zu nachtschlafender Zeit hier im Schloss herumwandelte. Instinktiv wich sie in eine Nische zurück. Eine Gestalt, deren Gesicht sie in der Dunkelheit nicht erkennen konnte, betrat die Galerie, wandte ihr dann jedoch sogleich den Rücken zu, um mit schnellen Schritten in die andere Richtung zu verschwinden.
Ihr Herz klopfte. Sie wartete mit angehaltenem Atem, bis sie sicher war, dass sie die Schritte nicht mehr hören konnte, dann kam sie aus der Nische wieder heraus. Wer beauftragte um diese Zeit einen Boten damit, ein Schreiben nach Paris zu schicken? überlegte sie, während sie nach draußen auf die Terrasse trat. Eine laue, warme Luft schlug ihr entgegen, und sie trat bis an den Rand, von dem die breiten Stufen hinab in den Garten führten, und lehnte sich gegen einen der steinernen Stützpfeiler. Ihre Hand griff nach dem Anhänger, den sie wie immer um den Hals trug. Einen Moment lang streifte ihr Blick den orangefarbenen Stein, dessen Einschlüsse das Mondlicht reflektierten. Sie fragte sich, warum ihre Mutter die Kette nie getragen hatte. Sie wusste so wenig über sie und ihre Familie. Das war ihr erneut bewusst geworden, als Charlotte de Laval heute so überrascht reagiert hatte, dass sie aus der deutschen Pfalz kam und dennoch Katholikin war. Zum ersten Mal hatte Madeleine sich gefragt, ob ihre Mutter vielleicht nicht immer katholisch gewesen war, sondern erst konvertiert war, als sie damals im Kloster Zuflucht gefunden hatte. Deine Mutter war stets von einem tiefen Glauben erfüllt , hatte die Äbtissin gesagt. Madeleine musste zugeben, dass das stimmte. Seit ihrem Tod hatte sie immer wieder versucht, sich an einzelne Begebenheiten mit ihrer Mutter in ihrer Kindheit und Jugend zu erinnern. Am Anfang hatte sie das getan, weil sie Angst hatte, sie könnte sie vergessen, doch dann, als sie sich ihr Verhalten in so vielen verschiedenen Situationen wieder vor Augen führte, war ihr mit einem Mal klar geworden, dass ihre Mutter sich zuweilen seltsam benommen hatte. Oft hatte sie auf ihre Fragen brüsk und abweisend reagiert, vor allem, wenn Madeleine sie nach ihrem Vater und der weiteren Familie fragte. Das musst du nicht wissen , pflegte sie zu sagen. Madeleine entsann sich auch noch, wie streng sie mit ihr umgegangen war, als sie damals, bei dem Einsturz der Brücke, von ihrer Vision erzählt hatte. Sie hatte ihr das Wort verboten und sie über Wochen mit immer neuen Pflichten überhäuft. Merkwürdigerweise hatte Madeleine die Arbeit jedoch gutgetan. Sie war damals innerlich so aufgelöst und voller Angst gewesen, dass sie erst durch die Erschöpfung wieder ihre innere Ruhe fand. Hatte ihre Mutter sie nur so viel arbeiten lassen, weil sie das gewusst hatte? Die Äbtissin hatte behauptet, ihre Mutter hätte mit Madeleine nur nicht über ihre Gabe gesprochen, weil sie sie hatte schützen
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