Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
überrascht zu werden.
»Eine ungewöhnliche Zeit dafür, oder?« Ronsard legte ihr die Hand auf die Schulter. »Nun, ich denke, es wird das Beste sein, wenn wir uns alle wieder zu Bett begeben, nicht wahr? Es könnte leicht einen falschen Eindruck erwecken, wenn du hier nachts allein mit Monsieur de Vardes gesehen wirst!«, sagte er.
»Die Rolle des Moralapostels wirkt weder besonders glaubwürdig, noch steht sie Euch, Philippe«, erwiderte Vardes kühl. »Aber Ihr habt ohne Frage recht. Etwas Schlaf wird uns sicherlich allen guttun.«
»Ja, ich bin auch müde«, sagte Madeleine eilig. Sie wich Vardes’ Blick aus und nickte den beiden Männern hastig zu, bevor sie sich abwandte und zurück ins Schloss flüchtete.
Montceaux, bei Paris
54
D er purpurrote Talar des Kardinals strich über die Stufen, als er mit schnellen Schritten die helle Steintreppe zum ersten Stock hochstieg. Diener und Mägde liefen überall im Palais in Montceaux herum, um die Kisten und Truhen hereinzutragen, die man draußen gerade von den Wagen geladen hatte. Möbel, Wandteppiche, Wäsche, Geschirr und Silber – wie Könige reisten auch sie, die Guise-Lorraine, stets mit ihrem gesamten Hausstand.
Der Kardinal de Lorraine tupfte sich mit einem weißen Spitzen tuch den Schweiß von der Stirn. Es gab weiß Gott angenehmere Jahreszeiten, dachte er. Der Juli war heißer als gewöhnlich, und nach den unbequemen Stunden in der Sänfte verspürte er eine leichte Müdigkeit. Dabei war er das Reisen gewöhnt – es gehörte seit Jahren zu seinem Leben. Als Kirchenfürst und Oberhaupt der Guise reiste er ständig zwischen seinen Bistümern, sei nen Abteien und persönlichen Besitztümern und den wechselnden Aufenthaltsorten des Hofes hin und her. In den letzten Jahren hatte er sich zudem als französischer Gesandter auch immer wieder nach Italien, zum Vatikan, und nach Madrid, an den Hof des spanischen Königs, begeben. Die Unannehmlichkeiten, die er dabei hatte in Kauf nehmen müssen, waren ein geringer Preis für die wertvollen Kontakte und Verbindungen gewesen, die er bei diesen Reisen gewonnen hatte und von denen seine Familie jetzt profitierte.
»Euer Eminenz?« Ein Mann in schwarzem Samtwams und gebauschten Kniebundhosen, die sich nach unten durch weiße Seidenstrümpfe abgrenzten, kam auf dem Treppenabsatz auf ihn zugeeilt.
»Verzeiht, aber der spanische Botschafter ist bereits eingetroffen. Mir war leider nichts von Eurer verspäteten Ankunft bekannt«, stieß sein Sekretär Julien hervor.
Der Kardinal nickte. Sie hätten Montceaux bereits gestern erreichen sollen, doch der niedrige Wasserstand des Flusses, den sie gewöhnlich mit einem Fährschiff überquerten, hatte ihnen einen Umweg aufgezwungen. »Bittet Monsieur d’Alava in die Bibliothek. Ich werde gleich zu ihm kommen«, sagte er.
Er beschleunigte sein Tempo und betrat seine Gemächer. Eilig nahm er von seinem Ersten Kammerdiener ein parfümiertes Tuch entgegen, mit dem er sein Gesicht und seine Hände reinigte, wechselte den zerknitterten weißen Kragen und ließ sich in einen frischen purpurfarbenen Umhang helfen. Ein kurzer Blick in den Spiegel versicherte ihm, dass er ausgeruhter aussah, als er sich fühlte. Er rückte noch einmal sein Birett, seine Kardinalskappe, auf seinem Kopf zurecht und begab sich, nunmehr gemessenen Schrittes, wieder hinunter zur Bibliothek.
Der Botschafter, ein kleiner, schwarzhaariger Mann, der ein hoch geknöpftes Wams trug, dessen Stoff so steif wie eine Rüstung wirkte, legte das Buch, in dem er geblättert hatte, zur Seite.
»Señor d’Alava! Seid willkommen«, sagte der Kardinal.
»Eminenz!« Er neigte höflich den Kopf.
Sie tauschten einige belanglose Förmlichkeiten und Höflichkeitsfloskeln aus, bevor sie sich schließlich in zwei verzierten Lehnstühlen aus dunklem Holz neben dem Kamin niederließen. »Ich habe eine Neuigkeit, die Euch interessieren dürfte«, sagte der Botschafter schließlich.
Der Kardinal schaute ihn erwartungsvoll an. Der Spanier und er waren Verbündete, die ein gemeinsames großes Ziel vereinte: ein katholisches Europa! Der spanische König Philipp II. hatte dabei bereits vor einiger Zeit verstanden, dass die Medici diese Ketzer von Hugenotten niemals ganz vernichten würde, sondern nur daran interessiert war, deren Macht zu beschränken. Daher hatte Philipp II. engere Kontakte mit den Guise aufgenommen. Der Kardinal und die Seinen waren sich mit Spanien darin einig, dass dem Protestantismus in Frankreich um
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