Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
bin!«
Madeleines Mund fühlte sich wie ausgetrocknet an. Gegen ihren Willen hatte sie ihm fasziniert zugehört. Es war schwer, sich seiner charismatischen Ausstrahlung zu entziehen und nicht von ihm beeindruckt zu sein. Aus jedem seiner Worte war zu spüren, von welchem tiefen Glauben dieser Mann durchdrungen war. Sie begriff jetzt, dass er so völlig mit sich im Reinen wirkte, weil er alles, was in seinem Leben geschah, bedingungslos und als den Willen Gottes anzunehmen schien.
Sie hätte viel dafür gegeben, wäre sie fähig gewesen, ihr Schick sal in ebensolcher Weise zu akzeptieren. »Ich wünschte, ich könnte die Dinge auch so sehen!«, sagte sie ehrlich.
Er lächelte wieder, während er sich von seinem Stuhl erhob. »Ihr seid jung. Manchmal braucht man etwas Zeit dafür, Mademoiselle. Gott sucht sich die Momente aus, in denen er zu einem kommt.«
Sie schwieg und erhob sich ebenfalls.
»Ich hoffe, dass Ihr Euch trotz aller Fremde hier wohlfühlen werdet, Mademoiselle! Mein Haus soll Euch stets ein Zuhause sein«, sagte er, während er sie zu Tür begleitete.
Madeleine nickte. »Danke, dass ich hier sein kann. Ich hätte nicht gewusst, wohin ich sonst gehen sollte«, sagte sie. Neben seiner großen Gestalt kam sie sich winzig vor.
»Das ist das wenigste, das wir für Euch tun können«, sagte er. »Es war Gottes Wille, dass sich unsere Wege kreuzten!« Er blieb vor der Tür stehen. »Wie anders wäre sonst zu erklären, dass Ihr durch einen reinen Zufall im Wald die Männer der Guise saht und auch noch mithören konntet, dass sie einen Anschlag planen, nicht wahr?«, fügte er hinzu. Sein Tonfall war liebenswürdig, doch sein wacher, prüfender Blick gab ihr plötzlich das Gefühl, dass er sie auf die Probe stellte.
Sie zwang sich ein Lächeln ab. »Ja, es war wirklich mehr als ein ungewöhnlicher Zufall«, gestand sie ein und war froh, als er den Kopf neigte und sie das Kabinett endlich verlassen konnte. Erst draußen auf dem Flur merkte sie, dass ihre Hände feucht waren vor Anspannung.
52
E s war eine laue klare Nacht. Die Dunkelheit hatte sich lautlos und sanft über die Weite des flachen Landes gelegt, und man konnte die Sterne in aller Deutlichkeit am Firmament erkennen. Nicolas de Vardes lehnte sich nachdenklich gegen eine der Zinnen der Mauer und blickte in die Ferne. Er liebte die friedliche, stille Atmosphäre zu dieser Stunde, doch heute erschien sie ihm umso mehr wie ein kostbares Geschenk, weil er spürte, dass es bald Krieg geben würde. Sie alle hatten immer gewusst, dass der Friede von Amboise nur ein vorübergehender Waffenstillstand war und keine der Seiten auf Dauer zufriedenstellen konnte. Es war kaum mehr als ein tiefes Luftholen gewesen. Vardes scheute den Kampf nicht. Auch wenn sie zahlenmäßig unterlegen waren, besaßen ihre Truppen die stärkere Moral und den besseren Zusammenhalt. Er war sich sicher, dass sie siegen würden. Die Katholiken waren in sich zersplittert, zwischen Hof und Adelsparteien genauso wie zwischen denen, die aus religiöser Überzeugung, aus Angst vor göttlicher Bestrafung kämpften, und denen, denen es allein um den Erhalt ihrer Macht ging.
Dennoch fragte sich Vardes zum ersten Mal, ob man diesen Krieg überhaupt jemals wirklich gewinnen konnte. Anders als bei einem Kampf zwischen zwei fremden Mächten konnten sie sich nach einem Sieg oder einer Niederlage nicht einfach hinter die Grenzen ihres Landes zurückziehen, sondern sie würden gezwungen sein, danach weiter miteinander zu leben. Sobald sich die besiegte Partei etwas erholt hatte, würde es daher immer wieder zu neuen Konflikten und Auseinandersetzungen kommen. Doch man konnte den Lauf der Dinge nicht aufhalten. Er sog mit einem tiefen Atemzug die laue Luft ein, bevor er sich abwandte, um wieder hinunter in den Hof zu steigen. Ein Geräusch ließ ihn unvermittelt auf dem Absatz stehen bleiben – unten waren die Umrisse einer Männergestalt zu erkennen, die im Schutze der Schlossmauern mit schnellen Schritten in Richtung der Terrassen entschwand.
53
M adeleine richtete sich mit einem Seufzen im Bett auf. Seit Stunden lag sie wach und konnte nicht schlafen. Die Eindrücke der letzten Tage und vor allem das Gespräch mit Coligny wollten einfach nicht aus ihrem Kopf weichen. Sobald sie die Augen schloss, sah sie das Gesicht des Admirals vor sich. Es war Gottes Wille, dass sich unsere Wege kreuzen, Mademoiselle … Gottes Wille! Der Tonfall von Coligny hatte sie seltsamerweise an die Äbtissin
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